Auf jeden Fall die perfekte Entspannungsmethode für Perfektionisten.
Zuerst fielen sie mir in der Bahnhofsbuchhandlung in Heidelberg auf. Großformatige Bücher mit märchenhaften, teils etwas kitschigen Motiven, schwarzweiß gedruckt. Mit der Aufforderung, die einfachen oder komplizierteren Form farbig auszumalen. Hää, ausmalen?
Denn sie standen nicht in der Ecke für Kinderbücher, sondern unter der Rubrik „Achtsamkeit und Meditation“, einzelne auch bei den Hobbybüchern. Es waren Malbücher für Erwachsene. Der Bestseller „Mein verzauberter Garten“ der 31-jährigen schottischen Grafikerin Johanna Basford hat es in den USA und Frankreich sogar in die Bestsellerlisten geschafft. Und auch in Deutschland haben sich schon 1,4 Millionen Menschen ihr Ausmalbuch gekauft. Es gibt Ausmal-Gruppen auf Facebook, Pinterest und Instagram.
Wie geht Ausmalen?
Na, bestimmt haben Sie das vor vielen Jahren als Kind auch schon gemacht. Oder es ist Ihre Lieblingsbeschäftigung in langweiligen Meetings. Man fertigt eine Zeichnung an und malt die entstandenen Formen aus. Entweder mit schwarzem oder blauem Kuli. „Doodle“ nennt man im englischsprachigen Raum solche Kritzeleien. Die einem in der Freizeit vielleicht bei einer Tasse Tee auch helfen, das Smartphone mal für eine lange Weile links liegen zu lassen.
Okay, rumkritzeln – so machen es die Anfänger.
Die richtiger Ausmaler laden sich eine kostenlose Vorlage, zum Beispiel hier oder hier herunter. Oder kaufen sich gleich das Kultbuch von Johanna Basford oder anderen Autorinnen. Schon seit geraumer Zeit gibt es sogar Malbücher zu Fernsehserien wie „Game of Thrones“, Malbücher, bei denen man Ryan Goslings blaue Augen und Beyoncés Karriereweg kolorieren kann.
Diese Malbücher für Erwachsene sind natürlich eine unverhoffte Umsatzbelebung für den ewig klagenden Buchhandel. Durch die Malvorlagen verzeichnet dieser mittlerweile Absatzsteigerung von 300 Prozent – jährlich!
Auch die Stifthersteller können wieder besser schlafen. Denn wer außer Kindern oder Hobbykünstlern brauchte denn bisher Bunts
Ausmalen hat ja an sich eine lange Tradition. Tätowierungen und Tattoos sind ja auch eine Form des Ausmalens von ornamentalen Mustern. Waren früher Tätowierungen hierzulande eher unter Matrosen und Sträflingen beliebt, erfreuen sie sich spätestens seit den 1990er Jahren großer Beliebtheit.
Und was bringt das Ausmalen nach Vorlagen?
Vor allem natürlich eine Beruhigung des Geistes durch die Fokussierung.
Das ist ja der Trick bei allen Entspannungsverfahren, bei Achtsamkeitsübungen, in der Meditation oder bei besonders spannenden Tätigkeiten. Störende Gedanken haben kaum noch eine Chance, einen zu belästigen, weil man seine Aufmerksamkeit bündelt:
- Beim autogenen Training auf verschiedene Körperpartien: „Stirn kühl, Bauch warum.“
- Bei Achtsamkeits- oder Meditationspraktiken zum Beispiel auf die eigenen Atemzüge.
- Bei Flow-Tätigkeiten auf das gegenwärtige Tun.
Und beim Ausmalen konzentriert man sich darauf, nicht über die Linien zu malen. Da die Vorlagen oft sehr kleinteilig und fizzelig sind, ist das gar nicht so einfach. Erfordert also genau die Konzentration, die einem hilft, den Geist zu beruhigen.
Kulturen, die sich seit Jahrtausenden der Erforschung des Geistes widmen, wie die indische und speziell die tibetische kennen schon lange die natürliche Heilkraft des Malens und Ausmalens. Dort waren es vor allem auch Mandalas, die gezeichnet wurden. Das Wort kommt aus dem Sanskrit und bedeutet: „Kreis, um dessen Zentrum sich alles dreht.“ Solche Mandalas spielen noch heute eine wichtige Rolle in Heilritualen oder der Tantrapraxis. Auch in unseren Breiten sind sie nicht fremd, wenn Sie an bunt dekorierte Kirchenfenster oder Rosetten denken.
Hier ein Video, wie solche Mandalas auch aus farbigem Sand gemacht werden. Und der Höhepunkt: Nach etlichen Tagen intensiver Arbeit des Sandzeichnens wird es zerstört. Woooooshhhh! Und weg. Da lernt man gleichzeitig das Loslassen.
C. G. Jung, der Psychoanalytiker aus der Schweiz, beschäftigte sich für seine Studien über das Unbewusste auch mit Mandalas. In seinen Forschungen über deren Wirksamkeit stellte er fest, dass die vertiefte Beschäftigung mit Mandalas einem Menschen Richtung und Sinn im Leben vermitteln können. Manche glauben auch daran, dass allein das Betrachten eines Mandalas tiefere seelische Wirkungen auslösen kann.
Mittlerweile sind die Ausmalbücher jedenfalls Kult. Der SPIEGEL hat darüber berichtet, SÜDDEUTSCHE, WELT, FAZ und BILD. Kulturkritiker sind eher entsetzt, dass Menschen lieber kleine Flächen farbig ausmalen anstatt ein richtiges Buch zu lesen. Und sehen darin eher den feigen Rückzug ins Private anstatt sich mit den allfälligen Problem der Welt zu befassen. Aber was wissen Kritiker schon von den wahren Bedürfnissen der Menschen? Noch so viele Gastrokritiker werden den Leuten ja auch nicht die Lust an McDonalds & Co. ausreden können.
Mein Selbstversuch mit Ausmalen.
Als Teil meiner Recherche habe ich mir auch ein paar Vorlagen heruntergeladen und mich ans Ausmalen gemacht. Farbstifte hatte ich noch genug von meinem 1 1/2-jährigen Experiment mit dem Cartoon-Zeichenkurs. Meine Erfahrungen nach einigen Stunden waren durchweg positiv:
- Geistig abschalten klappt wirklich.
Die Konzentration auf die kleinen und kleinsten Flächen, die Überlegung, welche Farbe als nächstes passt usw. machen den Kopf frei. - Es kommen Erfolgserlebnisse ohne Anstrengung.
Der Grund: Man muss nichts können – und das Ergebnis sieht immer irgendwie gut aus. - Beim Ausmalen entwickelt sich ein Sog.
Ich kenne das vom Puzzlen. Wer jemals ein Puzzle von 2.000, 5.000 oder 10.000 Teilen gemacht hat, weiß das: Es lässt einen nicht los. Auch wenn man zwischendurch unterbrechen muss, weil man arbeiten, essen oder auf’s Klo gehen muss. Die Sache zieht einen wieder ran – bis man’s irgendwann fertig hat.
Nach einer Weile fand ich dadurch auch wieder die Lust am „richtigen“ Zeichnen. Holte mein Tablet hervor, das für etliche Monate unter einem Bücherstapel gelegen hatte, lud den Akku und rief mein Zeichenprogramm SketchBookPro auf. Aus dem letzten Frankreich-Urlaub hatte ich viele Fotos mitgebracht und probierte das eine oder andere Motiv aus.
Und siehe da: Selber zeichnen funktioniert genauso gut wie Ausmalen. Durch die Konzentration kann ich kaum an was anderes denken und habe hinterher das befriedigende Gefühl, etwas Sinnvolles gemacht zu haben.
Wie fangen Sie jetzt mit Ausmalen am besten an?
Nun, Sie können sich von der Meisterin selbst anleiten lassen. Auf ihrer Website www.johannabasford.com zeigt die Königin des Ausmalens, wie man Stifte anspitzt (!) oder Vorlagen aus ihren zahlreichen Büchern richtig koloriert.
Aber Sie können auch einfach mal so anfangen. In der örtlichen Buchhandlung steht bestimmt gleich am Eingang ein Tisch mit Büchern über „Ausmalen für Erwachsene“ oder „Adult coloring“. Für jeden Geschmack ist da was dabei. Hier unter der Artikel haben ich einige Buchempfehlungen.
Am meisten profitieren Perfektionisten vom Ausmalen.
Menschen mit einem perfektionistischen Antreiber haben es ja nicht leicht, sich zu entspannen. Erst muss noch alles erledigt werden und wenn sie dann im Yoga- oder AT-Kurs endlich auf der Matte liegen, geht der Stress erst richtig los. „Atmen Sie tief ein und aus“ ist eigentlich eine klare Anweisung aber wer immer alles richtig machen will, kommt jetzt ins verzweifelte Grübeln:
- „Gleichzeitig tief ein und ausatmen? Das geht doch gar nicht. „
- „Soll ich erst ein oder erst ausatmen?“
- „Atme ich denn jetzt tief genug?“
Und die weiteren Äußerungen der Kursleiterin verstärken nur noch den Druck bei Perfektionisten, weil sie so unkonkret sind: „Wir lassen den Atem durch den ganzen Körper fließen“ oder ganz schlimm: „Wir entspannen uns ganz von selbst …“
Nein, das ist Ausmalen schon die bessere Entspannungsmethode für Perfektionisten zum Runterkommen. Man weiß ganz genau, was es zu tun gibt, darf gaaaaaaanz genau arbeiten, aber fast keine Fehler machen – und es sieht hinterher fast 150-prozentig perfekt aus.
Haben Sie schon Erfahrungen mit Ausmalen?
Wäre das was für Sie?
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Bild: © www.cartoon4you.de, malloreigh via Visualhunt
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