Die Autorin Karen Duve hat ein Jahr lang keine Tiere mehr gegessen.
Die Schriftstellerin Karen Duve hat bisher ein durchschnittliches Konsumentinnenleben geführt. Ihr Roman Taxi, von dem man vermuten darf, dass er in groben Zügen auf das echte Karen-Duve-Leben als Hamburger Taxifahrerin zurückging, spielt außer in einem Taxi in einer Menge Fritten- und Dönerbuden. Und in ihrem als »Selbstversuch« bezeichneten jüngsten Buch gesteht sie, dass sie sich bisher abends immer sehr gerne eine »Hähnchen-Grillpfanne« in der Aluminiumschale warm gemacht hat.
Nachdem sie jedoch eine dem Vegetarismus und dem Biokonsum zugeneigte Kreuzberger Filmemacherin in ihr brandenburgisches Landhaus aufgenommen hat, wird alles anders. Die junge Dame macht die Autorin darauf aufmerksam, dass zwischen der Normalität in unseren Supermärkten und unserem Verbrauchergewissen ein Abgrund klafft, über den man nur durch fortgeschrittene Gedankenlosigkeit hinwegkommt. »Qualfleisch« nennt sie ungerührt, was sich die Autorin ein Leben lang hat munden lassen. Und rechnet der verwirrten Freundin vor: Wenn es möglich ist, ein Huhn für 2,99 Euro großzuziehen, zu töten, zu rupfen, zu zerlegen, zu braten und samt Aluminiumschale in den Supermarkt zu karren, zahlt das Huhn dafür einen grausam hohen Preis. Ein weiß Gott sattsam bekanntes Argument, das der Hühnchenindustrie jedoch noch nicht die mindesten Umsatzeinbrüche beschert hat, weil Grausamkeit im Hühnerleben nicht zu den Sorgen zählt, die sich der Durchschnittshedonist gemeinhin macht.
Doch bei der Hunde- und Katzenliebhaberin Karen Duve verfängt das Argument im Handumdrehen. Wie Schuppen fällt ihr von den Augen, dass die Zustände in den Schlacht- und Mastbetrieben, denen unsere Gesellschaft das Normalitätssiegel aufdrückt, alles andere als normal sind. »So, wie es aussah«, schreibt Karen Duve, »lebte ich in einem Staat, dessen politische Entscheidungsträger einen Grad von Tierquälerei tolerierten, der für mich nicht akzeptabel war. Der Staat und ich, wir hatten einfach sehr unterschiedliche Standards, was man einem Schwein, Rind oder Huhn zumuten durfte. Je länger ich darüber nachdachte, desto fassungsloser stand ich vor der großen Diskrepanz zwischen dem, was ich wusste, und dem, wie ich bisher eingekauft hatte.«
Was daraus folgt, liegt auf der Hand: anders einkaufen. Karen Duve verschreibt sich selbst eine Konsumdiät, deren Verlauf sie in dem Buch protokolliert. Ein Jahr lang isst sie, einer Art sanfter Eskalation des Schreckens folgend, erst nur biologisch, dann vegetarisch, dann vegan und schließlich rein frutarisch. Sie folgt dabei der alten Indianerweisheit: »Urteile nie über einen anderen, bevor du nicht einen Mond lang in seinen Mokassins gegangen bist.«
Dieser Selbstversuch steht in einer Reihe mit zahlreichen anderen aktuellen Erfahrungsberichten über alle möglichen Formen des Rückzugs von den Zumutungen des hoch industrialisierten und technifizierten Lebens. Ein Jahr ohne Shopping, ein halbes Jahr ohne Internet, ein Jahr auf dem Land, zwei Monate auf Wanderschaft – all das ist in den letzten Monaten und Jahren ein beliebter Stoff für erzählende Sachbücher, deren Gemeinsamkeit darin liegt, die Großprobleme moderner Gesellschaften nicht mehr vom Hochsitz der Theorie, sondern aus der Froschperspektive des eigenen, unbezweifelbaren Erlebens zu begutachten. »Ich persönlich glaube«, schreibt Karen Duve immer wieder, wenn sie deutlich machen will, dass die folgende Einsicht genauso unabweisbar wie relativ ist.
Doch so subjektiv diese Verzichtsberichte auch sein mögen: Sie sind die Lebenszeichen eines neu erwachten politischen Engagements, das seine Entscheidungen nicht nur an der Wahlurne, sondern vor allem bei der Wahl des Lebensstils trifft. Die Unkosten des Delegationsprinzips erscheinen den Selbstversuchs-Autoren verheerend: Müsste man beispielsweise dem an den Füßen aufgehängten 2,99-Euro-Hühnchen »persönlich« an der Köpfmaschine in der Eile die Gurgel nur halb durchschneiden, bevor es halb tot gerupft und ins kochend heiße Wasser getaucht wird, würde einem der Appetit vergehen. Der Selbstversuch macht die Auslagerung grundsätzlicher Lebensstilentscheidungen wie des Nahrungs-, Medien- und Technikkonsums auf ein anonymes gesellschaftliches Ganzes wieder rückgängig. Das gibt den meisten dieser Bücher eine unverbrauchte Lebendigkeit, die sie zu sehr anregenden Lektüren macht.
Dies gilt in besonderem Maße für dieses mit der Heiterkeit der wahrhaft Verzweifelten geschriebene Protokoll eines bis ins kleinste Detail konsequent durchgeführten Ernährungs- und Entzugsexperiments. Und damit kommen wir zu den unschönen Details.
Phase eins des Duvenschen Lebensexperiments war die Bioernährung, die in der Nahrungsmittelbranche einen ähnlichen Supererfolg hat wie die Zeitschrift Landlust in der Medienbranche. Duve findet diese Phase paradiesisch, denn eigentlich kann sie alles essen, was sie vorher auch schon gegessen hat, es schmeckt nur einfach viel besser – oder überhaupt wieder nach irgendetwas. Mit Verzicht, schreibt sie, habe Bio nichts zu tun, eher mit Luxus. Doch die Fragen der Tierrechte sind auch in der Biobranche nicht gelöst. Denn »artgerechte Tierhaltung mit dem Ziel, das Tier zu schlachten, ist ein Widerspruch in sich«.
Es folgt die fleisch- und fischlose Phase, die Duves Katzen härter ankommt als sie selber. Das Fazit der vegetarischen Phase: keine Probleme außer die mit dem Appetit. Denn Nahrungsgewohnheiten bilden sich in der Kindheit aus und sind dem Verstand später offenbar nur eingeschränkt zugänglich. Die wirklichen Schwierigkeiten beginnen jedoch erst am oberen Ende der Verzichtsskala. Der Veganer darf nicht nur keine Milchprodukte mehr essen, er darf auch keine Tierhäute, keinen Honig und keine Eier mehr konsumieren. Die Gründe dafür liegen vor allem in dem Leid, das den Kälbchen bei der Trennung von der Milchkuh zugefügt wird, deren männliche Nachkommen überdies sofort in Kalbsfilet verwandelt werden.
Um von den Bedingungen, unter denen selbst unsere Bio-Frühstückseier hergestellt werden, gar nicht zu reden. Duve schlägt sich tapfer in der veganen Phase, obwohl der Verzicht auf Milchprodukte schwierig ist und die Plastiksättel nicht wirklich gut auf den Pferderücken sitzen. Selbst die frutarische Phase, in der nur noch gegessen werden darf, was die Natur uns gleichsam als Abfallprodukt schenkt, erträgt sie mit Gelassenheit. Dreimal täglich isst sie Erbsen mit Kokosnussmilch. Die Grundlage dieser Ernährungsform ist die Überzeugung, dass auch Pflanzen ein eigenes Lebensrecht haben, da der Übergang zwischen der pflanzlichen, der tierischen und der menschlichen Lebensform ein fließender ist. Duve signalisiert Sympathien mit den Pflanzenrechtlern, ist aber froh, als dieses Experiment vorbei ist.
Am Schluss gesteht sie, dass niemand aus einem solchen Selbstversuch als derselbe zurückkommt, der er einmal war. Wer sich mit Schlachthöfen und Mastanlagen beschäftigt hat, kann nie wieder der lebenslustige Genussmensch sein, der auch mal fünfe gerade sein lässt. Gleichzeitig bleibt die Lage paradox: Tier- und Pflanzenrechte kollidieren mit menschlichen Nahrungsbedürfnissen, ungelöst ist nur die Frage, wo diese Grenze verläuft. Für Karen Duve verläuft sie bei zehn Prozent: Sie wird von nun an nur noch ein Zehntel von den Milch- und Fleischprodukten essen, die sie in ihrem früheren Leben gegessen hat, und keine Ledersachen mehr kaufen.
Karen Duve: Anständig essen. Ein Selbstversuch
Galiani, Berlin 2010; 335 S., 19,95 €