Gestern war ich an einem Vortrag von Johannes Gerloff zu o.g. Thema. Gerloff wurde mir als grosser Kenner der Materie und objektiver Berichterstatter empfohlen. Nun, ein grosser Kenner von vielen Fakten und Zusammenhängen ist er zweifelsohne, ein recht unterhaltsamer Redner ebenfalls. Ich habe auch Neues gelernt, und andere Fragen sind geblieben oder neu dazu gekommen:
- Ich verstehe Gerloffs Anfrage (resp. -klage), weshalb Israel mit einem anderen Massstab gemessen wird als andere Länder. Das ist heuchlerisch. Wieso wirft ein kleines Ereignis in Israel derart hohe Wellen in der globalen Medienwelt, während ein vergleichbares Ereignis anderswo höchstens lokal und von den Direktbetroffenen zur Kenntnis genommen wird? — Israel sollte weder besser noch schlechter behandelt werden in der Medienwelt als andere Länder.
- Ich verstehe Gerloffs Aussage, dass die Verhältnisse in Israel komplexer und komplizierter sind, als dass sie eine einfache, pauschale Beurteilung ermöglichten; es ist auch die Frage erlaubt, weshalb sich die ganze Welt überhaupt berufen fühlt, die Handlungen und Entscheide Israels zu be- resp. zu verurteilen (auch da kommt die Frage der doppelten Massstäbe ins Spiel). — Handkehrum muss ich sagen: Mich motivieren Gerloffs Erklärungen wenig, mich in diese komplexe Materie einzuarbeiten. Wenn selbst einer wie er, der sich beruflich damit auseinander setzt und selbst die von ihm zu Rate gezogenen Experten (z.B. qualifizierte Juristen) bei gewissen Fragen (z.B. der Rechssituation in den besetzten Gebieten) die Hände verrühren und wenigstens ehrlich zum Schluss kommen, dass sie die Sache nicht verstehen, dann gebe ich mir keine grosse Chance, zu einem anderen Ergebnis zu kommen. Immerhin ist das aber auch ein wirklich löblicher Punkt, wenn ein Experte zugibt, dass die Sache zu kompliziert sei. Das ist mir tausend Mal lieber als vorgegaukelte Sicherheit und Vereinfachung der Sachlage!
- Die Sache mit der „Objektivität“ („wir schauen einfach die reinen Fakten an“, sagte Gerloff mehrmals): Das ist genau mein Problem, dass ich an diese Möglichkeit nicht glaube — grundsätzlich nicht („unsere Erkenntnis ist Stückwerk“, sagte der Apostel Paulus) und in politischen Fragen erst recht nicht. Es klingt zwar nach postmodernem, relativistischem Wischiwaschi, aber ich glaube tatsächlich, dass wir über Fakten immer nur von einem Standpunkt aus reden können. Ich glaube zwar durchaus, dass es („ontologisch“) eine objektive Wahrheit gibt (da würde ich mich von einem wirklich postmodernen Nihilisten unterscheiden); aber darüber denken und reden können wir nur auf dem Hintergrund und mit Hilfe von Sprache, Kultur, Bildern etc.
Damit sage ich natürlich nicht, dass man nicht trotzdem miteinander reden soll. Aber man soll nicht behaupten, man tue dies „objektiv“. Das führt mich — einmal mehr — zum Wunsch, gerade in dieser komplexen und komplizierten (…) Frage lieber mehrere Experten miteinander diskutieren hören als einem einzigen zuzuhören. Mein bescheidenes Hintergrundwissen erlaubt mir einfach nicht, relevante Einwände zu formulieren.
War es ein verschwendeter Abend? — Nein, bestimmt nicht. Aber die grundlegenden Fragen sind halt geblieben…