Religions- und kirchenkritische Bücher gibt es hierzulande in nicht geringer Anzahl, nicht selten von Autoren mit fundierter theologischer Ausbildung verfaßt. Demzufolge gehen diese in ihrer Kritik in der Regel von den Quellen, also Altes und Neues Testament der Bibel, oder von ihrer eigenen Binnenkenntnis der Machtorganisation Kirche aus. Nun also liegt mit „Irrtum unser!“ ein etwas anderes kirchenkritisches Buch vor.
Sein Autor Peter Henkel wendet sich nicht so sehr an kirchliche Amtsträger, zumal sich diese meist einem ernsthaften Dialog über den Kern des christlichen Gottesglaubens entziehen. Henkels Adressaten sind die, wie er sie nennt, „verstockten” Anhänger dieses Gottesglaubens. Der Autor, hier ganz der kritische und recherchierende Journalist, stellt daher, ausgehend von einem gesunden Menschenverstand, andere Fragen. Er polemisiert, ohne unsachlich zu werden. Manch einer seiner Adressaten dürfte die Fragen, Feststellungen und Schlußfolgerungen gar als provokatorisch empfinden. Aber – Provozieren muß nichts negatives sein, wenn denn dieses Provozieren zum Denken, zum Nachdenken anregt.
Henkel beginnt ganz profan mit der Feststellung: „Eigentlich ist die Sache ganz einfach: So etwas wie Gott gibt es nur als Gedachtes, als Eingebildetes in den Köpfen von Menschen. (…) Unzählige drücken sich vor dieser Einsicht.” (S.9)
Da hat er zwar recht, aber er provoziert sofort zwei Fragen des Rezensenten: Warum spricht er nur von >>Gott<< und setzt diesen Begriff nicht Anführungszeichen? Warum spricht er nicht universell-global von „Göttern”? Irgendwie ist Henkel da nicht konsequent und läßt sich auf die Terminologie der christlichen Priesterkaste und ihrer Theologie ein.
Ähnliches gilt auch über die Verwendung der Begriffe „Leugner” und „Gottlose” anzumerken. Statt Leugner wäre doch wohl richtiger zu sagen „Verneiner” und ein Hindu z.B. ist doch keinesfalls ein „Gottloser”, das ist er doch nur in der Auffassung der Christen…
Voll zuzustimmen ist Henkel jedoch in seinen Gedankengängen über „Freuds Wort von der ‚Denkhemmung‘ in Glaubensfragen und über die bundesdeutsche ‚stillschweigende kollektive Übereinkunft, öffentlichen Diskurs über Elementarfragen des [christlichen; SRK] Glaubens tunlichst zu vermeiden.” (S. 13). Hier spricht er auch die laizistische Auffassung, daß Glaube privat sei, an:
„‘Privater Glaube‘ will nicht passen zum schulischen Religionsunterricht, der überwiegend eine staatlich gewollte und organisierte Erziehung zum [!!!] Glauben darstellt, (…) zum Kirchensteuereinzug durch den Arbeitgeber, zur eklatanten Bevorzugung von [amtschristlicher; SRK] Religion, Glaube und Kirche in den Medien im Vergleich zu säkularen Strömungen.” (S. 13) Hinzuzufügen wäre, daß das in Bezug auf die säkularen Strömungen gesagte auch fast auf alle anderen mehr als 100 Religionsgemeinschaften in Deutschland wirkenden Religionsgemeinschaften zutrifft, einschließlich der nach Dutzenden zählenden christlichen…
Henkel bringt aber auch das auf den Punkt: „Gläubige, die nicht immer nur als stumme Diskursverweigerer dastehen wollen, schätzen kurze Zurufe. Da werden vom Gottesleugner Respekt und Toleranz gegenüber dem Glauben eingefordert; als ob Religion und Glaube sich beklagen dürfen über ein Mangel daran. (…) Beliebt ist der Hinweis, gottlosen Individuen und Gesellschaften drohe moralisches Elend…” (S. 14) Nun, letzteres ist jedoch kein Zeichen von Respekt und Toleranz seitens solcher Christenmenschen gegenüber Nicht- und auch Andersgläubigen.
Atheisten, Freidenkern und anderen religionsfreien Menschen schreibt Henkel sehr deutlich dies ins Stammbuch:
„Idyllischer Glaubensverwertung, wie wir sie in [Bundes-; SRK]Deutschland seit langem gewohnt sind, ist nicht beizukommen durch Pädophilieskandale, Kirchenaustritte oder Besucherschwund bei Gottesdiensten. (…) Es ist töricht und irreführend, wenn manche Atheisten hierzulande die Nichtkirchenmitglieder einfach dem Lager der Glaubenslosen zuschlagen.” (S. 15)
„Warum der Mensch der Torheit des Glaubens erliegt” – dieser Frage geht der Autor im ersten Kapitel seines Buches mit einer historisch fundierten Begründung nach. Daß Religion(en) für die Menschen evolutionär von Vorteil war und teilweise noch ist, steht für Henkel wie für jeden seriösen Gesellschaftswissenschaftler außer Frage. Dafür mögen nur solche Stichworte wie nachstehende dienen: Das Oasen-Dilemma; Kodex für die Gruppe; Die Angst vor dem Aus…
Nicht neu ist Henkels Feststellung: „Neben den schon erwähnten Bedürfnissen nach Schutz und Beistand, nach Trost und Erklärung dürften noch wesentlich kompliziertere Zusammenhänge eine erhebliche Rolle spielen. (…) So hat Religion ganz offenkundig auch sehr direkt zu tun mit Macht.”(S. 30) Nein, hier wäre statt des Wörtchens „auch” besser geschrieben worden „vor allem”! Weiter heißt es bei Henkel: „…historisch und bis in unsere Gegenwart übt Macht eine enorme Anziehungskraft aus, etwa auf Priesterkasten, die sich materielle und politische Pfründe sicher(te)n…” (S. 31)
Gnadenlos realistisch ist der Autor bei seiner bundesdeutschen Zustandsbeschreibung: „Weil Religion im Unterbewußten als etwas Positives und zugleich Mächtiges empfunden wird, gebietet weise Vorsicht, sie [die Priesterkasten; SRK] zum Verbündeten zu machen oder wenigstens zum Alliierten zu erklären.” (S. 56) Und das gilt leider auch für nicht wenige weichgespülte LINKE!
Das zweite Kapitel geht der Frage nach, „Wohin fromme Illusion sich verirrt”.
Henkel eröffnet diesen Abschnitt mit einem Zitat – er nennt dieses Credo ungeheuerlich – eines Mannes der „bis heute in kirchlichen Kreisen, überhaupt bei Gläubigen und weit darüber hinaus in höchstem Ansehen” (steht). Wie kaum ein anderer hat er eine besonders integre Form christlicher Gläubigkeit vertreten – und seinen Widerstand gegen das nationalsozialistische Deutschland mit dem Leben bezahlt. Die Briefe, die er aus der Haft an seine Familie schrieb, gelten als Zeugnisse großer Menschlichkeit und profunder Einsichten.” (S. 63):
„Wenn die Erde gewürdigt wurde, den Menschen Jesus Christus zu tragen, wenn ein Mensch wie Jesus gelebt hat, dann und nur dann hat es für uns Menschen einen Sinn zu leben. Hätte Jesus nicht gelebt, dann wäre unser Leben trotz aller anderen Menschen, die wir kennen, verehren und lieben, sinnlos.” (S. 63)
Autor dieser Zeilen, die man nicht anders als Ausdruck eines verblendeten und menschenfeindlichen Fundamentalismus nennen kann, ist Dietrich Bonhoeffer. Ja, so verstockt kann Glauben machen.
In diesem Kapitel referiert Henkel die wichtigsten Ergebnisse der kritischen Religionswissenschaften zu Jesus und der Bibel und zeigt „Jesus mal ganz anders” mit dem Resumee „Glaube als Absage an Toleranz” („Du sollst keine anderen Götter neben mir haben.”):
„Die eklatante Unkenntnis, die das großartige Image insbesondere des Weltretters erst möglich macht, ist nun freilich nicht allein auf die Torheit der Glaubensgemeinde zurückzuführen. Vielmehr geht sie ganz wesentlich zulasten von Kirchen, Schulen, Universitäten, Medien… (…) Sie alle versagen, teils vorsätzlich, teils fahrlässig, in einem Ausmaß, das man in einer sogenannten informierten Gesellschaft und sich selbst für aufgeklärten Gesellschaft nicht für möglich halten sollte.” (S. 77)
Und warum dies alles? Das kommt bei Henkel leider nicht konsequent zum Ausdruck. Denn seit das Christentum zur Kirche geworden ist, seit der Staat sich mit diesem verbunden hatte, war es Aufgabe dieser Kirche, dieser Religion, dieses Glaubens, dafür zu sorgen, daß in klassengespaltenen Gesellschaftsordnungen die da unten nie gegen aufbegehren. Seit der Antike bis heute sind die katholische Kirche und sind die evangelischen Staatskirchen die größten Großgrundbesitzer auf Erden, sind selbst kollektive Großbankiers und Großindustrielle… Trotz frommer Kanzelsprüche agierten und agieren sie in ihren wirtschaftlichen Unternehmungen nicht anders als seinerzeit antike Sklavenhalter oder Feudalherren und heute die meist anonymen privaten Eigentümer von Aktienpaketen…
Am Beispiel der allseits überschätzten Margot Käßmann liefert Henkel dann „Eklatante Beispiele dafür, wohin sich eine enthemmte Erbauungstheologie verirren kann”. (S. 82)
Bezüglich des Käßmann-Hypes schreibt er: „Wichtig scheint allein, bei einer ganz und gar unkritischen Leserschaft das erleichterte Gefühl freudiger Übereinstimmung auszulösen.” (S. 88) Käßmann liefere in ihren seichten Beststellern „lauter selbstreferenzielle, sich im Kreis drehende Aussagen, die vor keiner Willkür zurückschrecken und vor kindlichem Überschwang ohnehin nicht.” (S. 97)
Der Autor geht auch auf die seitens der Theologen so beliebten Behauptung ein, die (Natur-)Wissenschaft habe keine schlüssigen Antworten auf die elementaren Lebensfragen zu bieten und leitet damit zum dritten Kapitel über: „Vernunft und Wissenschaft – Feindbild der Gläubigen”. Henkel liefert er eine Vielzahl von Belegen für diese Feststellung und begründet auch warum Priesterkasten in Vernunft und Wissenschaften ihre größten Feindbilder sehen. Bedrohen sie doch deren Macht über (die Köpfe und Herzen der) Menschen und ganze Gesellschaften und Staaten. Eingehend setzt der Autor sich hier mit Schriften des Ratzinger-Papstes („Der Papst und die Hoffart”) auseinander und faßt sehr zugespitzt zusammen:
„Ein trübes, ein unter dem Aspekt intellektueller Redlichkeit fast schändlich zu nennendes Manöver, das gerade das Gegenteil von Bescheidenheit praktiziert. Und das an die Losung christlicher Kreuzritter erinnert, die mit dem ebenso vermessenen wie erlogenen Schlachtruf ‚Deus lo vult‘ (Gott will es) wider die vermeintlichen Heiden zogen, um sie entweder zu bekehren oder in Blutbädern zu ertränken.” (S. 134) … und um sich in jeden Fall zu Herren über jene aufzuschwingen…
Natürlich beruht nicht nur der Gottes- oder Götterglaube auf interessegeleitetem Denken, so Henkel. Und nicht nur religiöser Glauben mache taub und blind für kritische Einwände. Dieser Aussage widmet er ein spezielles Kapitel: „Sternenkunde als verwandtes Musterbeispiel spekulativer Projektion”.
Hier geht es nicht um die Astronomie als Wissenschaft, sondern um die Astrologie, die inhaltlich sehr viele Parallelen zu Religionen aufweise und vielfach konstituierender Bestandteil von Religion sei. Von Astrologie ist es nicht weit bis zu Esoterik und dergleichen mehr. Für die Betreiber solcher Praktikern in erster Linie ein großartiges Geschäft mit der Gutgläubigkeit und Unwissenheit vieler Menschen – auch im 21. Jahrhundert in angeblich so hochentwickelten Gesellschaften wie der USA und Deutschland.
„Wie Theologie am Neuen Atheismus scheitert” ist das fünfte Kapitel überschrieben. Hier heißt es eingangs: „Wie Glauben blind und taub machen kann, das zeigt beeindruckend der ganz überwältigende Teil der Reaktionen aus dem theistischen Lager auf den sogenannten ‚Neuen Atheismus‘.” (S. 175) Eine Fülle von Beispielen unterstreicht Henkels Aussage.
Er schreibt u.a.: „Rücksichtslos versucht heutige Theologie diesen modernen Freiheitsbegriff auch in die Bibel hineinzuinterpretieren – ganz im Rahmen vielfältigster Bestrebungen, Bibel und Glaube gefälligen Umdeutungen auszuliefern. Dabei atmet die sogenannte Heilige Schrift alles Mögliche, aber ganz gewiß nicht den Geist der Freiheit, und dasselbe gilt beispielsweise für das uns angeblich persönlich von Jesus persönlich hinterlassene Vaterunser.” (S. 189)
Weiter heißt es bei Henkel: „Richard Schröder, Ostberliner Philosoph und Theologe und politisch Interessierten bekannt als einstiger ostdeutscher SPD-Politiker. ‚Abschaffung der Religion? Wissenschaftlicher Fanatismus und die Folgen‘, so der volltönende Titel seines Buchs. Leider liefert es ein weiteres Musterbeispiel dafür, wie Auseinandersetzungen besser nicht geführt werden sollen.” (S. 190) Dieses Verdikt belegt Henkel mit aussagekräftigen Beispielen.
„Zehn Gründe, warum so etwas wie Gott nicht existiert” beschließen Peter Henkels Buch. Dazu schreibt er aber selbst: „Weder einzeln noch in ihrer Summe stellen diese zehn Argumente eine Widerlegung des Gottesglaubens dar; jedoch bilden sie eine Indizienkette, der die theistische Sicht nichts annähernd Gleichwertiges entgegenzusetzen hat.” (S. 201)
Was Henkel hier komprimiert zu Papier gebracht hat, das sollte unbedingt in einem Sonderdruck im Massenauflage publiziert werden. Besseres Argumentationsmaterial ist in dieser Form dem Rezensenten noch nicht zu Augen gekommen.
Zurück zum Titel seiner Streitschrift: Und warum und wie macht nun gerade christlicher Glaube „verstockt”? Henkel schreibt dazu: „Was nicht ins Bild paßt wird verdrängt und geleugnet, es wird beschönigt und zerredet. Und doch: Irrtum unser!” (S. 60) Man könnte es aber auch anders sagen: „Es war und ist doch nicht alles schlecht. Es muß doch was dran sein an der Sache, wenn seit 2000 Jahren…”
Henkels Fragen sollten aber nicht nur bei „verstockten” Anhängern des kirchen-christlichen Gottesglauben Gehör finden. Es sind dies Fragen, denen sich nicht minder auch Atheisten, Freidenker und (säkulare) Weltanschauungsverbände stellen sollten und müssen, wenn denn die (nach wie vor de facto bestehende) unselige Verbindung von Staat und den sogenannten Amtskirchen überwunden werden soll.
Diese überaus gelungene Streitschrift provoziert tatsächlich mit seinem geschliffenen, argumentativen Schreibstil zum Nachdenken.
Peter Henkel, geb. 1942, ist Journalist (u.a. „Frankfurter Rundschau”) und Buchautor. Bereits 2008 erschien mit „Ach, der Himmel ist leer” ein erstes religionskritisches Buch aus seiner Feder.
Siegfried R. Krebs
Peter Henkel: Irrtum unser! oder Wie Glaube verstockt macht. 212 S. Paperback. Tectum Verlag. Marburg 2012. 14,95 Euro. ISBN 978-3-8288-3025-7
[Erstveröffentlichung: Freigeist Weimar]