Zu viert stehen sie auf der Bühne, schwarz gewandet. Sehen grimmigen Blicks ins Publikum und beginnen plötzlich, als ob sie ein antiker Chor wären, zu rezitieren.
Sie, das sind Vater, Mutter, Tochter und Sohn im Stück „Die großen Kinder unserer Zeit“, das von Franz-Xaver Mayr und Korbinian Schmidt im Theater in der Drachengasse in Szene gesetzt wurde. Christiane Rochefort veröffentlichte 1961 ihren Roman „Kinder unserer Zeit“, in welcher die 11-jährige Hauptprotagonistin nicht zufälligerweise denselben Namen trägt wie die Tochter im Bühnenstück.
Humorige Sprachgewalt und eine witzige spritzige Regie
Ein Stück, in dem sich eine furiose bis humorige Sprachgewalt und eine witzige und spritzige Regie die Waage halten. Der Plot ist nicht schnell erklärt, denn eigentlich dient die abstruse Familiengeschichte vielmehr dazu, sich mit dem Phänomen der sprachlichen Kommunikation, den Wirrnissen unserer vermeintlich aus den Ufern geratenen Gesellschaft und den Mitteln des Theaters auseinanderzusetzen.
Da zählt es nicht wirklich viel, dass der jüngste Spross, Joe (Silvan Frick), als Dreizehnjähriger seine ersten Kusserfahrungen innerhalb der Familie machen muss. Eine Familie, die, von der Mutter pathologisch abgeschirmt und vom Draußen behütet, wie ein Raumschiff in den Wirren der Jetztzeit herumschwirrt. Eine Familie, die gemeinsam in die Disco geht, in der Joe versucht, soziale, weibliche Kontakte zu knüpfen. Eine Familie, die sich willigst fremdsteuern lässt.
Gezeigt wird das in jenen Szenen, in welchen die Mutter, Karola Niederhuber, Regieanweisungen von einem imaginären Handy ohne weitere Fragen oder Aufmucken entgegennimmt und dadurch dem Geschehen auf der Bühne jeweils einen neuen Dreh verpasst. Jimmy, die ältere Schwester von Joe, übt sich hingegen im Schauspielhandwerk und versucht immer wieder, die Rolle der Antigone einzustudieren. Ganz entgegen den elterlich ausgesprochenen Bedenken, dass man in einer Zeit wie dieser, doch keine alten Schinken mehr spielen könne.
Wer sich oder das Theater ernst nimmt, ist hier fehl am Platze
Neben all den Familienverirrungen lebt das Stück von reichlich klugem Sprachhumor. Beispiel gefällig? Nach einer wilden Discoszene und der Frage, was das denn jetzt gewesen sei, antwortet der Vater (Reinhold G. Moritz): „Das muss der Neoliberalismus gewesen sein. Wir sind total fertig und haben fast nix verdient!“ Oder: „Man hat vor lauter Sprechen keine Zeit mehr nachzudenken, was man sagt.“ Aber nicht nur der Kapitalismus bekommt sein Fett ab. Unter das Brennglas genommen wird der Wildwuchs der Sterneküche mit seinen abstrusen Speisekarten genauso wie aberwitzige Bühneninszenierungen. Das beginnt damit, dass die Truppe einen dadaistischen Auftritt in Tierkostümen absolviert, sich später am Bühnenrand bis auf die Unterwäsche auszieht, um sich anschließend jeweils selbst mit weißem Joghurt zu besudeln und unter einem feinen Sprühnebel ins Finale zu schlittern.
„Irgendetwas an dem Konzept stimmt nicht!“, ist zu fortgeschrittener Spieldauer zu hören, an welcher das Geschehen bereits völlig außer Rand und Band geraten ist. Zu einem Zeitpunkt, an dem klar geworden ist, dass alle Beteiligten inklusive ihrer Überväter Mayr und Schmidt eines ganz bestimmt nicht tun: Das Theater und das Spiel auf der Bühne ernst nehmen. Dass das Publikum das auch nicht tun braucht und dennoch jede Menge von dem mitbekommt, was den Zauber eines Theaterabends ausmacht, ist der große Verdienst dieser Produktion.
„Die großen Kinder unserer Zeit“ erhielt 2016 den Jurypreis des Nachwuchswettbewerbes und steckt so voller Ideen und Anregungen, dass ein Abend alleine nicht reicht, um ihn in seinen Tiefen und Untiefen wirklich ausloten zu können. Verbeugung auch an das Ensemble!
Weitere Termine finden sich auf der Homepage des Theaters Drachengasse.