Der VSA-Verlag hat im letzten Jahr Manuel Castells “Kampf in den Städten” (1973) als Reprint neu heraugegeben. Manuel Castells’ wegweisender Text enthält zahlreiche Anregungen für das Verständnis von städtischen Protesten und schärft auch heute noch den Blick für die gesellschaftsverändernde Kraft sozialer Bewegungen. In meinem Vorwort heisst es:
»Die bloße Empörung über unerträgliche Zustände oder die abstrakte Hoffnung auf eine bessere Welt reichen auch im 21. Jahrhundert nicht aus, um eine wirkmächtige soziale Bewegung zu tragen. Die von Castells in vielen Schattierungen betonte Verbindung von ideologischen Positionen mit unmittelbaren und kollektiven Alltagserfahrungen ist eine bis heute nicht widerlegte Grundlage für soziale Bewegungen.«
Hartmut Obens hat mich für das Debatten- und Theoriemagazin der LINKEN in Hamburg “Hamburger Debatte” zum Buch und zu einigen stadtpolitischen Bewegungsapekten befragt. In der selben Ausgabe gibt es auch einen lesenswerten Artikel von Bernd Belina: “Spezifischer Gebrauchswert. Zur politischen Ökonomie des aktuellen Mietenwahnsinns” (S. 8-9)
Das Interview gibt es auch hier zu lesen:
„… ein schlüssiges Instrumentarium zur Analyse städtischer Konflikte …“
Hamburger Debatte, Nr. 8, 4-5
Interview mit Andrej Holm. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität zu Berlin und forscht zu Themen der Stadterneuerung, Gentrifizierung und Wohnungspolitik im internationalen Vergleich.
Frage: Sie haben 2012 eine Aufsatzsammlung von Manuel Castells, „“Kampf in den Städten“, vorgelegt. Sagen Sie uns bitte, was Sie dazu motiviert hat, Analysen dieses bislang in der BRD noch eher unbekannten Autors aus den siebziger Jahren herauszubringen?
Holm: Die Entscheidung ging auf den Hamburger VSA-Verlag zurück, die hatten bereits in den 1970ern eine deutsche Übersetzung des Buches herausgegeben. Damals wurde Castells in der Neuen Linken viel gelesen und seine Arbeiten über städtische soziale Bewegungen gehörten lange Zeit zu den Standardwerken der kritischen Stadtforschung. Mit seiner Perspektive auf die Eigenständigkeit von sozialen Bewegungen war er dann später den Traditionsmarxisten zu voluntaristisch und dem Mainstream zu revolutionär. So ist er in Vergessenheit geraten. Doch gerade angesichts der wieder aufflackernden städtischen Bewegungen bieten seine Texte eine Reihe von sinnvollen Anregungen zum Verständnis der urbanen Kämpfe.
Frage: Die „Recht auf Stadt“-Bewegung spielt in Hamburg eine beträchtliche Rolle. Glauben Sie, dass die städtischen Kämpfe so etwas wie die „neue soziale Frage“ darstellen, die den „klassischen Sozialkonflikt“ zwischen Kapital und Arbeit an den Rand drängen oder dabei sind, dessen bisherige zentrale Rolle zu übernehmen? Können Sie etwas mit dem Begriff „Mosaiklinke“ anfangen?
Holm: Der Verstädterungsgrad, die gestiegene Bedeutung von Wissensproduktionen und die Finanzialisierung der Immobilienwirtschaft haben dazu beigetragen, dass Städte nicht mehr nur die Rahmenbedingungen für Produktion und Wohlfahrt setzen, sondern selbst zum Schlüsselelement der kapitalistischen Vergesellschaftung geworden sind. Hardt und Negri sprechen sogar von der „Stadt als unserer Fabrik“. Im Schatten einer wachsenden Autonomie der Wissensproduzierenden verorten sie die Mehrwertabschöpfung zunehmen im Bereich der Grundrentenkapitalisierung. Angesichts der drastisch steigenden Bodenpreise und Wohnkosten erscheint ein antagonistisches Verhältnis zwischen gebrauchswertorientierten Stadtnutzer/innen und einer Immobilienverwertungskoalition erst einmal schlüssig. Kernproblem des Kapitalismus bleibt trotzdem die Ausbeutung, städtische Fragen spielen jedoch in ihrer konkreten Organisation ein weitaus stärkere Rolle als in der Vergangenheit. Insofern ist es kein Wunder, dass städtische Fragen auch ganz weit oben auf der Tagesordnung sozialer Bewegungen zu finden sind. Das Problem städtischer (und auch anderer) Mobilisierungen ist jedoch eine wachsende Fragmentierung von Interessen. Illegalisierte Migrant/innen, deutsche Schulabbrecher ohne Ausbildungschance und prekarisierte Künstler/innen mögen alle Verlierer/innen des Systems sein – ihre konkreten Forderungen und Ansprüche an die Gesellschaft werden sich dennoch unterscheiden. Die „Recht auf Stadt“-Bewegungen können wir als Ansatz ansehen, über diese fragmentierten Interessen hinweg eine kollektive Handlungsfähigkeit zu erlangen. Ob der Begriff von der „Mosaiklinken“ geeignet ist, das Gemeinsame zu finden ohne die Unterschiede zu negieren, kann ich nicht wirklich einschätzen.
Frage: Worin sehen Sie die besondere politische und wissenschaftliche Rolle Castells und welche Bedeutung hat er für die heutigen sozialen Bewegungen im neoliberalen Kapitalismus?
Holm: Ob wissenschaftliche Arbeiten eine Bedeutung für soziale Bewegungen haben können, sei mal dahingestellt. Aber Manuel Castells bietet uns in seinen frühen Werken ein schlüssiges Instrumentarium zur Analyse städtischer Konflikte und kann genutzt werden, die Welt, die wir verändern wollen, besser zu verstehen. Das Spannende am „Kampf in den Städten“ ist dabei, dass er die Protestbewegungen in ein Instrument der Gesellschaftsanalyse verwandelt. Statt der klassischen Analyse von den Strukturen der herrschenden Verhältnisse versucht er konsequent von den Bewegungen und ihren Widersprüchen ausgehend, die Gesellschaft zu verstehen. Die Proteste werden damit gewissermaßen zu Seismographen der aktuellen Machtverhältnisse. Das ist ein völlig anderer Ansatz, als in der sonst üblichen Bewegungsforschung, die überwiegend versucht die Erfolgskriterien sozialer Bewegungen zu analysieren.
Frage: Sie sprechen im Vorwort von den städtischen Protesten als „transformative Bewegung“. Können Sie uns das in wenigen Worten erläutern?
Holm: Der Begriff kommt von Peter Marcuse, der versucht hat, die unterschiedliche Reichweite von Protestbewegungen zu systematisieren. Neben Bewegungen mit effizienzorientierten, liberalen und radikalen Reformforderungen beschreibt er transformative Bewegungen, die in ihren Forderungen nicht nur nach kurzfristigen Verbesserungen oder Umverteilungen suchen, sondern darüber hinaus weitergehende Perspektiven formulieren. In diesem Sinne ist es ein Unterschied sich innerhalb eines bestehenden Systems, wie z.B. dem Sozialen Wohnungsbau auf die Forderung nach sozial angemessenen Mietobergrenzen zu beschränken oder Strategien zur Vergesellschaftung von Wohnungsbeständen zu verfolgen. In der Praxis vieler Protestmobilisierungen werden Forderungen sehr unterschiedlicher Reichweite miteinander verbunden. Das muss kein Mangel sein – transformative Bewegung zeichnet sich jedoch dadurch aus, grundlegende Veränderungen nicht aus den Augen zu verlieren. Letztendlich ist es weniger ein Beurteilungskriterium für eine bestimmte Bewegung, sondern ein Orientierungsmaßstab für die Initiativen selbst.
Frage: Und zum Schluss: Was bedeutet ihre Aufforderung, mit Castells „in die städtischen Kämpfe des 21. Jahrhunderts“ zu gehen?
Holm: Das bezieht sich zum einen darauf, Castells Arbeiten – die ja mittlerweile 40 Jahre alt sind – in die aktuellen Bedingungen zu übersetzen. Beispielsweise gehören viele partizipatorische Elemente der Stadtplanung, die damals als erstrebenswert galten, inzwischen zum gängigen Herrschaftsrepertoire. Trotzdem können wir aus seinen Arbeiten viel lernen. So sah er die Verbindung von Alltagskämpfen mit grundlegenden ideologischen Positionen als Erfolgsvoraussetzung für soziale Bewegungen. Das stimmt so sicher auch heute noch und insbesondere die Weltveränderer aller Schattierungen sind aufgefordert, einen konsequenten Alltagsbezug herzustellen. Veränderungen werden nicht aus Parlamentsdebatten und politischen Manifesten hervorgehen, sondern aus den Alltagskämpfen in den Städten. Insofern können wir Castells frühe Arbeiten als einen Aufruf verstehen, auch kleinteilig und unwichtig erscheinende Konflikte und Widersprüche erst zu nehmen und uns dort einzubringen.