Der deutsche Regisseur Philip Koch hat mit dem Film ‚Picco‘ sein Langspielfilm-Debut inszeniert. Hier beweist er durch eindrucksvolle und realitätsnahe Bilder, dass er sein Handwerk versteht. Er schildert das Leben in einer Jungendstrafvollzugsanstalt, wo drei inhaftierte Jugendliche einen vierten Zellenkameraden zum Selbstmord verleiten. filmtogo hatte die Möglichkeit sich mit dem Regisseur über den Film und seinen Werdegang im Filmbusiness zu unterhalten.
filmtogo: Wo kommt der Titel ‚Picco‘ her? Was bedeutet das Wort?
Philip Koch: Der Titel ist abgeleitet von dem italienischen Wort „Piccolo“. Das steht für ‚Der Kleine‘. So heißen in Jugendgefängnissen die Neuankömmlinge, sozusagen das Frischfleisch. Kevin, die Hauptfigur im Film, ist so ein Picco. Er kommt in den Jugendknast und muss lernen, sich in diesem sozialdarwinistischen System zu behaupten. Das ist ein sehr harter Kampf.
filmtogo: Nun bewegt sich die Handlung des Films sehr nahe an den Geschehnissen vom Foltermord in Siegburg. War diese Nähe beabsichtigt?
Philip Koch: Siegburg war damals schon die Initialzündung für das ganze Projekt. Das war das erste Mal das ich überhaupt mit diesem Thema in Kontakt gekommen bin. Ich habe das wie die meisten aber erst einmal verdrängt und mich nicht weiter damit befasst. Es hat mich aber nie losgelassen. Als es dann ein Jahr später darum ging, was ich als Abschlussfilm machen würde, habe ich angefangen in diese Richtung zu recherchieren. Es gibt natürlich mehrere Folterskandale. Es gab einen in der JVA Leipzig und auch in der JVA Herford. Aber im Film sind es völlig fiktive Figuren. Es gibt zwei oder drei Szenen, die so in Siegburg passiert sind, aber eben auch in anderen Jugendvollzugsanstalten. Siegburg ist in den Medien aber so präsent gewesen, dass jetzt natürlich alle davon ausgehen, dass das im Film auch Siegburg ist. Aber eigentlich ist es das nicht.
filmtogo: Du hast gerade die Recherche angesprochen. Wie sah die genau aus? Wie geht man da heran, wenn man mit einem so harten Thema arbeitet?
Philip Koch: Man liest erst einmal alles, was es auf dem Gebiet gibt. Damit man sich auch mental darauf einstellen kann, worauf man sich da einlässt. Dann geht man einen Schritt weiter. Man geht in die Jugendgefängnisse um dort mit allen Menschen zu sprechen. Also vom Anstaltsleiter bis hin zu den Beamten, zu den Psychologen und natürlich auch den Häftlingen. Das waren eigentlich die bedeutsamsten Begegnungen und Gespräche. Das ist auch sehr emotional. Das vergisst man nie. Dann versteht man eigentlich erst wirklich, dass das Kinder sind, die dort inhaftiert sind. Selbst wenn die 20 oder 22 Jahre alt sind, lesen sie die Bravo. Die sind teilweise auf einem Entwicklungsstand von einem 13-Jährigen.
filmtogo: Und wie sah dann die Arbeit mit den Darstellern aus? Wenn man als Spielfilm-Debütant dann die Schauspieler durch den Film manövrieren muss?
Philip Koch: Zuerst einmal war es wichtig mit erfahrenen Schauspielern zu arbeiten und nicht mit Laien. Vor allem im letzten Drittel des Filmes geht es an die Grenzen der Schauspielkunst. Also wirklich ans Eingemachte. Für einen unerfahrenen Schauspieler könnte das sehr gefährlich sein. Er könnte sich davon eventuell nicht mehr richtig erholen. Ich brauchte Schauspieler, die diesen Prozess kennen. Sie mussten in der Lage sein in diese Rollen hineinzuschlüpfen, aber auch wieder da herauszukommen. Es war wichtig, dass jeder wusste wie er mit seiner Rolle umzugehen hatte. Und dann haben die Darsteller natürlich auch eine Menge recherchiert. Teilweise kannten sie ehemalige Häftlinge und haben sich mit denen auseinandergesetzt. Oder sie haben sich Aufzeichnungen von Gesprächen angehört, die in Gefängnissen geführt wurden. In diesem Fall von einem Journalisten, der uns die Bänder zur Verfügung gestellt hat. Das war der Klaus Jünschke. Er hat das Buch ‚Pop Shop‘ geschrieben. Ein sehr wichtiges Dokument. Er hat mir auch bei der Recherche geholfen und mir Bänder geschickt, die diese wirklich rohe Sprache von Jugendlichen gezeigt haben. Und dann war das eigentlich ein sehr professioneller Dreh.
filmtogo: ‚Picco‘ war deine Abschlussarbeit an der Filmhochschule München. Wenn man einen solchen Abschlussfilm macht und dieser dann im Anschluss in Cannes gezeigt wird, wie ist da dann so das Gefühl? Also dieser Weg vom Filmstudenten zum Cannes-Gast?
Philip Koch: Das war natürlich der Wahnsinn. Das ist wahrscheinlich auch der Traum eines jeden Filmstudenten, wenn man nicht gerade Popcorn-Kino macht. Wir wurden anfangs bei der Berlinale für sämtliche Kategorien abgelehnt. Also auch für die Kategorien, die nicht im Wettbewerb sind. Das dann noch die Zusage aus Cannes kam, dem wirklich wichtigsten Film-Festival der Welt, war natürlich ein emotionales Feuerwerk der Gefühle. Wir haben uns dann auch die volle Dröhnung gegeben und gleich das ganze Festival, die vollen acht zehn Tage, mitgenommen. Das war schon wirklich surreal.
filmtogo: Und wie waren in Cannes die Reaktionen auf den Film? Man hört ja, dass es da ein paar Ausschreitungen gab?
Philip Koch: Ja, das war schon ein Eklat. Aber auch in Saarbrücken und in anderen Orten. Das war nicht das einzige Mal, dass es zu heftigen Reaktionen kam. Der Film polarisiert enorm, weil er eben sehr emotional ist. In Cannes war es aber eigentlich am heftigsten. Es gab dort einen Menschen, der hat mich angeschrien und meinte, dass ich für den Film ins Irrenhaus müsste. Ein älterer Franzose hat während des Filmes den Saal verlassen und brüllte, dass das Ausschwitz wäre. Das lag wohl an dieser beklemmenden Atmosphäre. Das kam auch nur im Ausland vor, dass man dort sofort wieder an die Nazis gedacht hat. Das war schon sehr heftig.
filmtogo: Als was siehst du selbst den Film? Als reine Kritik an Jugendstrafanstalten oder steckt da für dich noch mehr dahinter?
Philip Koch: An der Oberfläche ist es natürlich ein Film, der sich ganz klar gegen das System stellt und den Jugendstrafvollzug kritisiert. Auf der anderen Seite ist es natürlich auch eine Metapher auf unsere Gesellschaft. Vor allem das Thema der Zivilcourage und was die Genese von Gewalt in hermetischen Systemen betrifft. Die ersten 70 Minuten des Filmes zeigen die Mechanismen von Mobbing, von Unterdrückung und Machtspielen. Die kommen wirklich überall vor. Egal ob in der Schule, in Gangs, in Familien oder am Arbeitsplatz. Es gibt aber auch immer eine moralische Instanz, die das unter Kontrolle hält. Und genau das gibt es im Jugendgefängnis nicht. Deshalb sind die letzten 20 Minuten im Film wahrscheinlich die wahre Provokation. Wir sehen dort eine konsequente Weiterführung von urmenschlichen, natürlichen Problemen. Die finden wir überall in unserer Gesellschaft. Das ist es, was wirklich bedenklich sein sollte.
filmtogo: Wir haben ja vorhin schon darüber gesprochen, dass ‚Picco‘ dein Abschlussfilm an der Filmhochschule war. Aber wie bist du überhaupt zum Film gekommen? Also wo war bei dir der Anfang?
Philip Koch: Mein amerikanischer Großvater war schon immer absoluter Filmfanatiker. Er hat so ein Filmzimmer mit tausenden von VHS-Kassetten. Er hat wirklich alles aufgezeichnet, was irgendwie ein Spielfilm oder eine Serie war. Als Kind war dieses dunkle Speicherzimmer für mich immer ein mystischer Ort. Mein Großvater saß dann immer in einem Sessel und hat mir auf so einem uralten Fernseher Filme gezeigt. Das hat für mich das Medium Film von frühester Kindheit an mystisch verzaubert. Ich habe aber erst sehr spät gewusst, es war etwa mit 13 Jahren, dass ich Filme machen möchte. Ich glaube ausschlaggebend war wirklich ‚Pulp Fiction‘. Danach habe ich meinem Vater gesagt, dass ich Kultfilmregisseur werden möchte. Der ist natürlich aus allen Wolken gefallen. Er meinte natürlich, ich solle erst einmal etwas Ordentliches machen. Dann habe ich mir gedacht, wenn ich irgendwann auch Filme selbst produzieren will, ich habe jetzt ja auch eine Produktionsfirma, dann sollte ich erst einmal BWL studieren, um erst einmal so eine Grundlage zu haben. Ich habe dann aber gemerkt, dass das nicht klappt. Mein erster Film war dann tatsächlich mein Bewerbungsfilm für die Hochschule.
filmtogo: Du hast ja auch als Filmkritiker gearbeitet?
Philip Koch: In meiner Anfangszeit an der Hochschule habe ich Filmkritiken geschrieben. Das war eigentlich eine sehr angenehme Tätigkeit um nebenher ein wenig Geld zu verdienen. Also verdienen tut man da eigentlich nichts. Es war wirklich miserabel bezahlt. Aber es hat halt Spaß gemacht. Man hat sich nicht nur einen Film angeschaut, sondern war auch dazu gezwungen, darüber zu schreiben. Da bekommt man noch einmal einen ganz anderen Blick auf das Medium. Das hat mir schon sehr geholfen.
filmtogo: Hat dir das dann auch jetzt bei ‚Picco‘ geholfen? Konntest du auf deinen eigenen Film jetzt aus dieser Filmkritiker-Perspektive schauen?
Philip Koch: Indirekt hat es mir bestimmt geholfen, weil ich mich einfach filmisch weiterentwickelt habe. Das betrifft vor allem Stilistik, Stilmittel und Erzählweise. Wenn ich mir jetzt noch einmal die ganzen Kritiken durchlesen würde, würde ich vielleicht auf etwas stoßen. Aber es hat mich eher in meinem gesamten Werdegang geprägt. Ich kann nicht sagen, dass die Filmkritik einen maßgeblichen Anteil an ‚Picco‘ hat. Aber es hat definitiv mein Bewusstsein für das Medium noch weiter geschärft.
filmtogo: Und was steht jetzt bei dir als nächstes an? ‚Picco‘ ist fertig. Gibt es schon weitere Pläne?
Philip Koch: Ja, muss es auch geben. Ich arbeite an mehreren Projekten. Es gibt so eine Quote. Wenn man fünf Projekte entwickelt, wird davon eins realisiert. Es ist für mich natürlich wichtig, mich strategisch als Regisseur zu positionieren. Also eigentlich ist das für jeden Regisseur wichtig. Man will nicht in eine Schublade gesteckt werden. Also werde ich nicht gleich noch einmal einen sozialkritischen Jugendgewaltfilm machen. Ich werde jetzt schon einen kommerzielleren Ansatz wählen, der auch für ein großes Publikum funktioniert. Ich könnte mir auch vorstellen einen Fernsehfilm zu machen. Jetzt nicht unbedingt als nächstes Projekt. Aber als einen meiner nächsten Filme. Man muss auch immer schauen, was gefördert wird. Eigentlich kann man es sich nicht aussuchen, was für einen Film man machen wird. Das hängt immer von Redakteuren und von Förderreferenten und Fördergremien ab, was für einen Film man machen kann.
Das Interview führte Denis Sasse