Der Schauspieler Pierre Meunier (C) Alain Julien
Der französische Schauspieler Pierre Meunier war in dieser Saison gleich zweimal im TNS (Théâtre National Strasbourg) zu Gast. Mit „Im Herzen der Unordnung“ seinem One-man Stück und „Sexamor“, einer Gemeinschaftsarbeit mit Nadège Prugnard. Er gilt in Frankreich als Ausnahmeerscheinung, vereint er doch die Berufe des Autors, Schauspielers, Regisseurs und Bühnenbildners in einer Person und lässt sich obendrein mit seiner Arbeit in kein gängiges Schema einordnen. Den Beginn seiner künstlerischen Laufbahn startete er im Nouveau Cirque de Paris und im berühmten Pferdespektakel von Zingaro sowie in der Volière Dromesko. Er war Schauspieler am Théâtre du Radeau, in welchem er mit dem Regisseur Matthias Langhoff zusammenarbeitete. Pierre Meunier ist gleichermaßen vom sprachlichen Ausdrucksreichtum, wie der anschaulichen Präsentation schwieriger wissenschaftlicher Themen fasziniert und unterhält sein Publikum in diesem Spannungsverhältnis.
Herr Meunier, warum sprechen Sie eigentlich so gut Deutsch?
Mein Vater liebte die deutsche Sprache und hat sie sehr gut gesprochen. Als junger Mann war ich im Sommer öfter in Deutschland, um dort zu arbeiten
In Ihrem Stück „Im Herzen der Unordnung“ verwenden sie eine sehr elaborierte Sprache, die sich im wissenschaftlichen und philosophischen Umfeld befindet. Haben Sie Ihr Stück selbst ins Deutsche übersetzt?
Oh nein, das wäre gar nicht möglich gewesen. Übersetzt hat es Anna Langhoff, die Tochter von Matthias Langhoff, dem Regisseur. Sie lebt in Berlin.
Haben Sie die Übersetzung dann unkritisch übernommen oder gab es noch einen weiteren Arbeitsschritt bis zur endgültigen Fassung?
Nein, ich habe die Übersetzung noch einmal in Paris mit meiner ehemaligen Gymnasiallehrerin, die Deutsche ist, durchgearbeitet. Ich alleine wäre dazu nicht in der Lage gewesen, ich musste dann das Stück nur auswendig lernen. Aber ich habe dabei gelernt, dass vieles, was im Französischen auf den Punkt genau kommt, in meiner Betonung im Deutschen nicht so präzise ist. Gerade die Spannung, die man innerhalb eines ganzen Satzes aufbauen mus, auch durchzuhalten, war für mich enorm schwierig. Im Französischen hingegen kann ich die Spannung direkt zu einem Wort hin aufbauen. Ich glaube, hier kann ich auch noch viel lernen. Für die Aufführung in Straßburg habe ich dann noch hier drei Tage mit Barbara Engelhardt gearbeitet. (Anm: Barbara Engelhardt war von 1996 bis 2001 Redakteurin bei der Zeitschrift Theater der Zeit, seither ist sie freie Autorin und Herausgeberin zahlreicher Publikationen in Deutschland und Frankreich, außerdem Festivalkuratorin in Bobigny/Paris (Le Standard Ideal) und Straßburg (Premières). Sie lebt in Straßburg.
Waren Sie schon einmal mit einer Produktion im deutschsprachigen Raum?
Ja, das war mit meinem Stück „Le tas“ – zu Deutsch „Der Haufen“. Wir traten damit beim Festival in Bochum auf. Es ist ein sehr visuelles Stück, das nur mit 15 Minuten Text insgesamt auskommt. Es dreht sich unter anderem um die Frage des Gewichtes und war dort im Ruhrgebiet in diesem Umfeld mit all diesen sichtbaren, großen Haufen in der Industrielandschaft für die Leute enorm interessant.
Sie beschäftigen sich sehr mit naturwissenschaftlichen Problemen wie zum Beispiel der Schwerkraft.
Ja, es interessiert mich zu wissen, wie das ist und was die Wissenschaft dazu zu sagen hat. Als ich mich das erste Mal in einem wissenschaftlichen Laboratorium meldete, wurde ich nicht gerade freundlich empfangen. Aber ich wollte wissen, was das eigentlich für die Wissenschaftler selbst bedeutet und war direkt in einem Büro des CNRS und sprach dort mit dem Spezialisten Richard Kerner. Im Laufe unserer Unterhaltung begann das Eis zu schmelzen und Kerner wurde immer freundlicher. Heute kommt er zu jeder Premiere von mir. Im Stück „Im Herzen der Unordnung“ beschreibe ich, wie sich die Wissenschafter um eine Röhre scharen, die, gefüllt mit Sand, aus der Waagrechte in die Senkrechte gebracht wird. Der Moment, in dem die Sandkörner zu rutschen beginnen, ist für die Wissenschaft von höchstem Interesse. Und so wie ich es auf der Bühne beschreibe, dass alle dastehen und gebannt diesen Moment erwarten, der auch fotografiert wird und ganz genau vermessen wird, so ist es tatsächlich. Nicht nur in Paris, sondern auf der ganzen Welt. Ich war auch in Chile und konnte dort dasselbe Phänomen beobachten.
Wann begannen Sie eigentlich selbst, Stücke zu schreiben?
Das war 1990, als ich noch mit der Volière Dromesko zusammenarbeitete. Es war ein Spektakel mit 500 Vögeln und vielen Pferden. Ich verkörperte dort einen gewissen Leopold von Fliegenstein, der gegen die Schwerkraft kämpft. In diesem Zusammenhang habe ich mich zum ersten Mal mit diesem Thema beschäftigt und dachte mir, dass ich hier zur Basis dieses Problems vordringen müsse, um es überhaupt zu verstehen. Ich behandle dieses Thema seither in unterschiedlichen Variationen und es ist bis heute mein Thema geblieben. Im Sommer habe ich übrigens vor einen Film über Leopold von Fliegenstein zu machen mit dem Titel „fiction“.
Sie sind Schriftsteller, Schauspieler, Regisseur – in welchem Beruf fühlen Sie sich eigentlich am meisten zuhause?
Im Moment ist für mich alles gleich wichtig. Für mich ist das Erzählen auf der Bühne wichtig, aber auch das Erfinden der Requisiten, die ich verwende. Es spielt alles zusammen. Wenn ich etwas schreibe, dann fällt mir unter Umständen ein System ein, das besser ist als Worte. Ein Bild auf der Bühne, eine Maschine, die das, was ich sagen will besser ausdrücken kann als Worte es können. Aber umgekehrt fallen mir, wenn ich mich mit Maschinen beschäftige, auch oft Wörter ein, Texte, die ich dann verwende. Das ist ein kreativer Prozess der in beide Richtungen hin funktioniert und mir einen Zugang zu meinem Inneren anbietet. Ich brauche diese Arbeit. Sie gibt mir Kraft, Kraft auch, weiter zu leben. Für mich ist es auch der Grund, mit anderen diese Erfahrungen zu teilen, andere über das Theater oder den Film daran teilhaben zu lassen.
Reagiert das Publikum in Deutschland anders auf Ihre Stücke als jenes in Frankreich?
Oh ja, sehr stark. In Frankreich ist das Publikum extrem kopforientiert. Die Leute fragen sich sofort, was ist das?, welche Art von Theater ist das?, in welche Lade kann ich das stecken?, was will uns das sagen?, was ist die Idee?. Erst danach versuchen die Menschen zu urteilen. Das ist sehr schwierig, aber es ist eben dieser ganz spezielle, französische Geist. In Deutschland erlebe ich einen viel organischeren Zugang. Als wir in Bochum waren, habe ich nach der Aufführung mit den Leuten gesprochen, das hat mich sehr berührt. Sie hatten einen ganz anderen, viel ursprünglicheren Zugang mit stärkeren Emotionen. Auch in Chile habe ich das so erlebt. Die Leute dort waren ganz offen und neugierig und die Dimension des „Haufens“ war dort auch noch politisch zu sehen, also ganz anders als in Frankreich.
Wünschen Sie sich etwas von ihrem Publikum, möchten Sie etwas bewirken?
Ich wünsche mir, wie im Stück „Der Haufen“ z.B., dass das Publikum, wenn es aus dem Stück geht, einen Steinhaufen vielleicht ganz anders wahrnimmt und sieht als zuvor. Ich gebe den Menschen mit meinem Stück die Möglichkeit, einen Steinhaufen – oder auch die Welt – anders zu sehen, als sie dies zuvor getan haben. Meine Stücke öffnen die Menschen zu ihrem eigenen inneren Reichtum, das fühlen sie auch. Ich glaube es ist so, als ob sie plötzlich einen Durst empfinden, der in ihnen vorhanden war, aber ganz verschüttet, ganz zugedeckt. An so einem Abend beginnen sie, ihn wieder zu spüren.
Sie spielen gerade das Stück Sexamor, das ja aus einer Zusammenarbeit mit Nadège Prugnard entstanden ist.
Ja, das stimmt. Jeder von uns hat seinen eigenen Text eingebracht. Der Anfang, die Szene mit einem Kapitän, stammt von Nadège, der Rest ist von mir. Es ist aber gänzlich anders als das Stück „Im Herzen der Unordnung“, das auch in dieser Saison in Straßburg aufgeführt wurde. Es erzählt über die Schwierigkeit des Zusammenkommens von Mann und Frau aufgrund der großen Unterschiede der Geschlechter. Mann und Frau sind ja etwas ganz anderes. Es zeigt eine Serie von Versuchen der Annäherung aufgrund der Verschiedenheit. Heute ist die Tendenz sehr stark, dass das Fremde als eine Art Bedrohung gesehen wird. Es besteht aber natürlich eine enorme Anziehung, ein enormer Wunsch sich zu treffen, aber dennoch gehen Beziehungen auch immer wieder auseinander. Es gibt nichts Selbstverständliches in einer Beziehung. In Straßburg wurde das Stück sehr gut aufgenommen. Das Publikum hier ist immer voller Aufmerksamkeit und auch sehr offen.
Was bedeutet für Sie Theater überhaupt?
Theater ist heute der letzte Platz, wo man mit anderen zusammen Zeit hat, zu träumen und zu überlegen. Wo man den Atem hören kann und den Herzschlag spüren kann. Im Theater gibt es nicht diese Einsamkeit, die vor dem Bildschirm entsteht, der Informationen ohne Tiefe übermittelt. Heute triumphiert das Oberflächliche, gerade deshalb ist das Theater heute so wichtig. Es ist so leicht, im Internet zu einem Thema Zugang zu bekommen. Aber der Weg des Fragens ist enorm wichtig. Sich selbst Fragen zu stellen. Die Gefahr ist extrem präsent, dass heute alles für uns gedacht wird. Es ist durch das Internet eine Hierarchie der Antworten entstanden. Kein Mensch klickt sich, wenn er eine Frage gestellt hat, zum Treffer 130 weiter. Wir erleben heute eine falsche, vermeintliche Freiheit. Für mich z. B. ist die ganz persönliche physische Überprüfung der Masse wichtig. Das geht aber nicht im Bildschirm. Schon die kleinen Kinder sind in der Schule damit konfrontiert und der Bildschirm beherrscht die Menschen auf ganz animalische Art und Weise. Wenn Sie in ein Café gehen oder in ein Restaurant und dort ist ein Bildschirm montiert, dann sehen sie, wie sich alle in diese Richtung drehen und ganz gebannt dort hinsehen. Auf der anderen Seite sehe ich aber auch, dass sich im Internet Widerstand formiert und etabliert. Auch ein wesentlich leichterer Zugang zu Büchern ist festzustellen. Ich bin aber dagegen, dass man sich zum Sklaven des Internet macht.
Arbeiten Sie bereits an neuen Projekten?
Ja ich möchte etwas über die Sprache machen. Über den Kampf der Wörter mit den Gedanken, die wir im Kopf haben. Darüber, wie die Stimme sich einbringt, über die Schwierigkeit des Artikulierens und über alle Töne, die man erzeugen kann, genauso wie jene, die wir nicht gelernt haben. Ich denke darüber nach, wie mach sich hörbar macht, aber auch was es mit der Stille auf sich hat. Wenn ich schreibe, dann tauchen auch gleichzeitig Ideen auf oder auch einzelne Wörter, die mich dann mehr und mehr beherrschen.
Sie haben ja schon viel darüber nachgedacht, ist also das nächste Stück schon fertig?
Nein, ganz und gar nicht. Ich bin erst mitten in den Überlegungen und auch Recherchen.
Möchten Sie den Leserinnen und Lesern dieses Interviews auch noch etwas ganz Persönliches sagen?
Gehen Sie nicht auf die andere Seite der Straße, wenn Ihnen ein Fremder entgegen kommt, sondern riskieren Sie, ihn kennenzulernen!
Ich danke Ihnen herzlich für das Gespräch und wünsche Ihnen viel Erfolg für die kommenden Unternehmungen!
Verfasser: Michaela Preiner
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