Interessante Zeit

Kommentar von Michael Gratz (aus der Sendung Plattform, Radio 98,1, Freitag 13.5. 20 Uhr)

Leben wir nicht in spannenden Zeiten? Die jungen Leute, die in mehreren arabischen Ländern auf die Straße gehen und jahrzehntelange Verkrustungen wegspülen, erzeugen Unruhe.

Nicht nur bei ihren Machthabern. Auch der Westen wird plötzlich nervös.

Gewaltherrscher sind berechenbar. Fundamentalisten und Terroristen irgendwie auch. Aber die Einmischung der „Straße“ macht Probleme. Wohin kommen wir, wenn sich die Straße in die Politik einmischt? So mancher Politiker an Spree, Rhein oder Isar denkt so, und manchmal rutscht es einem raus. Die Straße ist doch gar nicht kompetent! Das ist doch alles viel zu kompliziert. Das müssen doch Fachleute entscheiden!

Wohin uns die Herrschaft der „Fachleute“ gebracht hat, sieht man überall. Pflanzen und Tiere verschwinden, das Klima spielt verrückt, die wilden Meere hupfen an Land und die Erde brennt. (Das ist keine Metapher, in Japan brennt sie weitgehend unbeachtet seit Monaten!)

Die Macher in Stuttgart planen einen unterirdischen Bahnhof, und auf einmal gehen zehntausende auf die Straße. Es ist gar nicht wichtig, ob sich der Aufwand lohnt, den häßlichen Nazibau in Stuttgart zu retten. Darum gehts gar nicht. Die Leute haben kein Vertrauen mehr zu den angeblichen Fachleuten, und zu ihren gewählten Auftraggebern auch nicht. Vertrauen erschöpft sich, wenn es zu sehr in Anspruch genommen wird. Euer Konto ist verbraucht!

Wenige Tage nach dem Erdbeben mit nachfolgender Atomkatastrophe wurde das Regierungslager in Deutschland nervös und schwenkte plötzlich heftig aus. Ihr mit heißer Nadel gestricktes Moratorium läuft bald aus. Was werden uns die Fachleute jetzt sagen? Mein Vertrauen ist nicht allzu groß.

Daß vor kurzem mitgeteilt wurde, auf Wunsch des Umweltministeriums würden Castortransporte nicht mehr angekündigt, ist keine vertrauensbildende Maßnahme. Ich glaube euch nicht. Ihr redet dem Volk nach dem Maul, damit es euch wählt, und den Rest erledigt ihr verschwiegen in Hinterzimmern oder Lobbys. Wenn euch die Straße nicht auf die Füße tritt, läuft gar nichts.

Aber den Rechtsstaat, wer verteidigt den? Da gibts die Politiker, die Organe der Rechtspflege und die Polizei. Wenigstens das scheint doch in festen Händen?

In den 90er Jahren waren Politikerreden und Medien voll mit Brandmetaphern. DAS BOOT IST VOLL! rief der Spiegel. Die Stammtische nickten Beifall, und ein paar Aktivisten in Rostock und Mölln zündelten. Das Volk in Rostock war weniger stammtischgeübt und brüllte auf der Straße telegen Beifall.

Rechtsradikale witterten Morgenluft. Auch in Greifswalds Innenstadt waren sie ein paar Jahre sehr präsent. Dann gab es eine große Gegendemonstration, 7000 Nazigegner gegen 120 Glatzen. Sehr junge Kinder, Pfadfinder blockierten die Bahnhofstraße und wurden von der Polizei brutal weggeräumt.

Dann vor 10 Jahren versuchtens die Rechten wieder, diesmal kamen nicht so viele Gegendemonstranten, aber trotzdem ein Vielfaches mehr als Nazis. Vor allem aber wurde es die Chronik einer angekündigten Blockade. Auf einmal waren es nicht nur die vom Stammtisch gefürchteten Chaoten. Der CDU-Oberbürgermeister ging an der Spitze mit, „einen Spaziergang“ wollte er machen, sagte er. An den Polizeisperren vorbei gelangten hunderte Demokraten. Die Nazis steckten im Stau, und nach langem Warten mußten sie den Rückzug Richtung Südbahnhof antreten. (Wenn Fernsehkameras dagewesen wären, hätten sie filmen können, wie die Nazis beim Rückzug verspottet und mit roten Tomaten beworfen wurden. Warum waren sie eigentlich nicht da?)

Es war nicht nur mein Eindruck: die erfolgreiche Blockade reinigte die Stadt, die Innenstadt zumindest. Leute, die so wie DIE denken, gibt es an Stammtischen und auch an der Universität, aber sie halten sich bedeckt.

Jetzt versuchten sie es wieder einmal zusammen mit ihrem Schweriner Oberhäuptling. Am 1. Mai, den sie wie ihre Vorgänger 1933 TAG DER DEUTSCHEN ARBEIT nannten, kündigten sie einen Marsch durch Greifswald an, der durch beide Neubaugebiete in Schönwalde führen sollte. Wegen der provozierenden Losung GEGEN FREMDARBEITERINVASION (das Wort Fremdarbeiter ist die nächste Anleihe bei den Altnazis) verbot die Stadt den Nazimarsch. Die Rechtspflegeorgane pflegten das Recht und hoben das Verbot auf. Schließlich schützt der Rechtsstaat auch die Feinde des Rechtsstaats.

Wieder kamen nicht allzu viele Rechtsextreme. Auf jeden Neonazi kamen wohl mindestens 12 Gegendemonstranten. Auch die Universität und die bürgerliche Mitte riefen zur Gegendemonstration.

Das Zahlenverhältnis zwischen Verteidigern und Gegnern der Demokratie war deutlich. Das ist schon mal gut für Greifswald. Und trotzdem war an diesem 1. Mai das wichtigste nicht der bürgerliche Protest, sondern die Effektivität der fast durchweg jungen bis sehr jungen Leute, denen es trotz Aufgebots von 1000 Polizisten und am Himmel stehendem und spähendem Hubschrauber immer wieder gelang, vor den Neonazis auf der Straße zu sitzen. Einem Polizisten, der lange nach dem Abzug der Nazis eine Gruppe junger Blockierer auf der Straße sitzen ließ für eine „polizeiliche Maßnahme“, sagte ich: Ich verstehe, Sie haben einen Auftrag, aber die jungen Leute, die Sie hier bewachen, arbeiten auch für die Verteidigung des Rechtsstaats. Er schaute finster. Vielleicht denkt er doch drüber nach?

Blockaden sind illegal, das ist klar, aber das „Greifswalder Modell“, so nenne ich es, geht so, daß Bürgertum, Polizei und Blockierer mehr unfreiwillig als freiwillig, aber am Ende effektiv zusammenwirken. Man muß den Bürgern danken, die bei schönem Wetter auf die Straße gingen statt ins Grüne; den Polizisten, von denen vielleicht doch auch viele begriffen haben, daß auf der Straße nicht ihre Feinde sitzen, und den Jugendlichen auf der Straße, die die Nazis aufhielten. Eine Art unfreiwillige aber effektive Sicherheitspartnerschaft. Herr Pastörs hat jedenfalls begriffen, daß die Stadt Greifswald ein harter Brocken ist, sein Wahlkampfauftakt ist mißglückt und, wir versprechen es den Politikern, die Straße wird sich weiter einmischen in ihre eigenen Angelegenheiten. Wirklich, wir leben in einer interessanten Zeit.



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