Zurück aus einer unbestimmten Zukunft mit Juli Zeh und ihrem Roman Leere Herzen, stürze ich mich mit Daniel Kehlmanns Tyll in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Sofort bin ich komplett vereinnahmt von dem historischen Kosmos und seinen Figuren. Hier wirkt alles lebendig, ich habe das Gefühl, das Buch pulsiert und sprüht Funken. Endlich wieder ein Roman, bei dem ich mir gern den Wecker eine Stunde früher am Morgen stelle, weil ich ihn weiterlesen will, und weil er so genial in diese dunkle triste Zeit passt! Denn auch in Kehlmanns Roman ist es irgendwie ständig kalt und ungemütlich. Das Essen miserabel. Die Menschen meist übellaunig. Mitteleuropa im 17. Jahrhundert war einfach kein schöner Ort. Obwohl die Geschichte inhaltlich also ziemlich düster ist, überschlägt sie sich an intelligenten Einfällen und komisch-absurden Situationen. Und zaubert mir ein glückliches Lächeln ins Gesicht. Das liegt zuallererst natürlich an Kehlmanns großer Erzählkunst. Es liegt aber auch an der Hauptfigur Tyll Ulenspiegel. Diesem großen, hageren Mann, der immer da auftaucht, wo es eigentlich gar nichts mehr zu lachen gibt. Und es liegt auch an so zentralen Figuren wie Nele, dem Winterkönig Friedrich und dessen Frau Liz. Es fiel mir schwer, sie alle loszulassen. Und wie ich es manchmal bei außergewöhnlich guten Romanen mache, gehe ich auf die erste Seite und tauche erneut ein ... wenigstens für 50 Seiten. Atmosphärisch düster fängt Kehlmann seinen Roman an:
Der Krieg war bisher nicht zu uns gekommen. Wir lebten in Furcht und Hoffnung und versuchten, Gottes Zorn nicht auf unsere fest von Mauern umschlossene Stadt zu ziehen, mit ihren hundertfünf Häusern und der Kirche und dem Friedhof, wo unsere Vorfahren auf den Tag der Auferstehung warteten. Wir beteten viel ... (Seite 7).
Lichtblick in dieser Tristesse sind fahrende Händler oder Theaterleute. Eines Tages taucht Tyll auf. Sein Ruf eilt ihm voraus, die Leute kennen ihn und sind in heller Aufregung. Schnell entsteht eine provisorische Bühne aus dem Planwagen und eine Tragödie um zwei Königskinder beginnt, der ein Lustspiel und eine Ballade aus dem Krieg folgen. Später fliegen nach Aufforderung durch Tyll die rechten Schuhe aller Zuschauer durch die Luft und dann ist sein Planwagen auch schon aus der Stadt verschwunden ...
Diese Geschichte mit den Schuhen kommt mir bekannt vor, denke ich. Irgendwas war doch da auch mit gebackenen Eulen ... kaum einem sind die Streiche des Till Eulenspiegel unbekannt. Doch ist Tyll keine schlichte Nacherzählung der gleichnamigen Schwanksammlung aus dem Mittelalter. Hätte es mich dann auch so brennend interessiert? Wahrscheinlich nicht.
Dafür aber fühle ich mich beim Lesen sofort an Die Vermessung der Welt (Rowohlt Verlag. Hamburg 2006) erinnert. Auch in diesem Roman war das Besondere, dass Kehlmann zwei reale Personen - den Mathematiker Gauss in seiner Studierstube und den ewig reisenden Forscher Humboldt fiktiv agieren lässt (ohne wichtige historische Fakten wegzulassen).
Kehlmann geht aber diesmal noch einen Schritt weiter! Er nimmt diesen Tyll aus dem 14. Jahrhundert, packt ihn ins 17. Jahrhundert und lässt ihn dort realen und fiktiven Personen jener Zeit begegnen. Ein genialer Streich, der dem echten Ulenspiegel vor 700 Jahren ganz sicher gefallen hätte.
Aber hat es ihn tatsächlich gegeben? Darüber gibt es verschiedene Spekulationen. Möglicherweise hat er gelebt, ist lt. Wikipedia geboren 1300 in Kneitlingen. Vielleicht ist er ja auch nur eine durch mündliches Erzählen entstandene Phantasiefigur. Laut Auskunft meines Harenberg-Literaturlexikons ist Till Eulenspiegel - Volksbuch eines unbekannten Verfassers, erschienen 1515 oder früher ... In 96 Kapiteln wird berichtet wie Eulenspiegel zumeist Menschen höherer Schichten (Fürsten, Geistliche, Zunftmeister) mit viel Witz verspottet.
Doch da ich keine Literaturforscherin sondern lediglich glückliche Leserin und Buchhändlerin bin, belasse ich es bei diesen Spekulationen. Weil es mir nicht wichtig ist. Weil ich mich beim Lesen eines Romans einfach verführen und in andere Welten entführen lassen möchte. Mit Phantasie, Humor und guter Sprache. Gern entdecke ich beim Lesen auch ähnliche politische oder gesellschaftliche Situationen im Hier und Jetzt. Ich finde, Daniel Kehlmann ist all das auf allerhöchstem Niveau gelungen. Deshalb ist eins ganz klar: Tyll kommt auf meine Top-Ten-Liste für das Jahr 2017.
Daniel Kehlmann. Tyll. Rowohlt Verlag. Hamburg 2017. 474 Seiten. 22,95 €Dieser Beitrag wurde unter Neue Beiträge abgelegt und mit Daniel Kehlmann, Rowohlt Verlag, Till Eulenspiegel, Tyll, Tyll Ulenspiegel verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.