Hätte man die Angewohnheit, als Kritiker während der Vorstellung mitzuschreiben, so müsste man es sich heute genau überlegen. Denn an der kreuzförmigen Abendmahlstafel auf der Schwere-Reiter-Bühne kann man sich nicht verstecken. Weiß die Wände, weiß die Kleider der Schauspieler-Nonnen, weiß die Tischdecken – hell, intim und leise geht es zu. Die Zuschauer haben einander als Abendmahlsgäste wie beim Dinnertheater bestens im Blick, können sich gegenseitig testen: Wie gehen die anderen mit dem interaktiven Format um? Und wie fügen sie sich in die sakrale Atmosphäre ein, die hier imitiert wird?
Denn Regisseur Ramin Anaraki hat eine kluge Situation ersonnen: Einerseits integriert er das Publikum in sein Szenenbild, andererseits zitiert er mit dem klösterlichen Mahl ein nicht wirklich interaktives Format, bei welchem der Gast sich den mit dem Kult vertrauten Nonnen gern unterordnet – und den Mund hält, solange er nicht befragt oder zum Mitsingen aufgefordert wird. So behalten die Schauspielerinnen trotz Mitmachtheaters die Kontrolle, während die Zuschauer ihre natürliche Interaktionsscheu inhaltlich rechtfertigen können.
Zwei deutsche und zwei polnische Schauspielerinnen, mit denen Anakari sein Projekt erarbeitet hat, führen durch eine Zwitterform aus Refektoriumsspeisung und christlichem Abendmahl inklusive Tischlesung vom Lektorpult aus. Ein an sich schon theatraler Gemeinschaftsritus, der theatral nachgespielt wird: Diese Doppelung führt zu dem spannenden Effekt, dass weder der künstlerische noch der religiöse Rahmen so recht ernst genommen werden kann und eine entspannt-ironische Atmosphäre sich verbreitet.
v.l. Gina Henkel, Malgorzata Walas-Antoniello, Angelika Fink
Die Texte, die am Pult erklingen, stammen von Pier Paolo Pasolini; den Gedanken des provokativen Regisseurs und Schriftstellers widmet sich der ganze Abend. Pasolinis Attacken auf die Konsumgesellschaft werden von den Lektorinnen leider viel zu eintönig vorgetragen, zu wenig sprachlich durchleuchtet, um konsumierbar zu sein. So bleiben sie bemühte intellektuelle Unterfütterung. Stimmiger fügen sich die Interviewfragen zu Liebe und Sexualmoral ein, die aus Pasolinis Dokumentarfilm „Comizi d’amore“ stammen und mit denen die Nonnen, wie zur religiösen Unterweisung, ihr recht verhalten und diplomatisch antwortendes Publikum konfrontieren. Nächstenliebe und erotische Liebe, Seelsorge und Beziehungspflege verbinden sich mit lächelnder Selbstverständlichkeit – eine bestechende Verbindung, die darin gipfelt, dass sich die entblößte Angelika Fink in Kruzifixus-Pose auf den Abendmahltisch legt und dazu einen Monolog der Prostituierten aus Pasolinis Film „Mamma Roma“ spricht.
Erotik, Konsum, Religiosität, konservatives Italien: Ein klarer Grundgedanke lässt sich trotzdem bei diesem Gastmahl leider schwer fassen. Wie häufig bei freien Stückentwicklungen erkennt man leicht die Einzelideen, aus denen das Ganze aufgebaut ist. Pasolini-Kenner haben es einfacher, weil sie allerorten die verstreuten Spuren zum Gesamtwerk verfolgen können. Aber um Pasolinis Denken kennenzulernen und zu veranschaulichen, ist das Projekt zu voraussetzungsreich und zu willkürlich zusammengestellt.
Kryptischer und zugleich sinnlicher wird es nach der Pause. Entgegen der augenzwinkernden Anmerkung, „das Schlimmste“ komme erst noch, bereitet der stumm ablaufende zweite Teil auch ganz ohne den Bezug auf Pasolini Genuss: als eine Folge präziser Abläufe, in denen die vier nunmehr schwarz gewandeten Darstellerinnen minimalistisch die Reize ihres Körpers entdecken, ihre Einsamkeit durch Momente spielerischer Interaktion durchbrechen, zwischen meditativer Ruhe und plötzlichem Aktivismus schwanken. Ein konkreter Bezug auf Pasolinis sexualthematischen Film „Teorema“, wie er durch Videoeinspielungen und konzeptionelle Begleittexte behauptet wird, liegt ebenso fern, wie er unnötig ist, um den kraftvollen Bildern Bedeutung zu geben: Wie in Trance, hinter einem Gazevorhang auch räumlich entrückt, vollziehen die vier Schauspielerinnen ihre Handlungen mit solch tiefem Ernst, dass die abstrakte Vieldeutigkeit nicht verwirrt, sondern eine dringliche Einladung ausspricht, individuelle Lesarten zu entwickeln.
So entlässt der heterogene Doppelabend sein Publikum in nachdenklicher Stimmung. Worüber allerdings nachgedacht wird – das bleibt offen.