"Organic Beat" von Paulo Ribeira im Le-Maillon (c) Laurent PHILIPPE
„White feeling“ und „Organic beat“ von Paulo Ribeiro im Le-Maillon in Straßburg
Mit „White feeling“ und „Organic beat“ legte Paulo Ribeiro im Le-Maillon in Straßburg zwei Tanzstücke vor, die unterschiedlicher nicht sein können. Das war, zumindest für das Publikum, die Herausforderung des Abends.
Das „CC-Ballet De Lorraine“ unter Didier Deschamps erarbeitete zwei Choreografien des Portugiesen, die auf zwei unterschiedlichen, künstlerischen Zugängen basieren, aber dennoch dieselbe choreografische Handschrift aufweisen. „White feeling“ versucht, das portugiesische Lebensgefühl der „weißen“ Stadt Lissabon in zeitgenössischen Tanz zu packen und wird dabei von den vier Akkordeonisten der Gruppe „Danças Ocultas“unterstützt. Von traurigen Elegien bis hin zu feurigen Tangorhythmen spannt sich die Bandbreite der Musik , die wie in einer Endlosschleife die Tänzer trägt. Assoziationen zu den Themen Individualität und Masse, Außenseiter und Gesellschaft, aber auch Gruppenbildund und –dynamik können mit dieser Arbeit Paulo Ribeiros verbunden werden. Dabei spannt er jedoch keinen durchgehenden, roten Faden, sondern lässt vielmehr Erinnerungsfetzen, Stimmungen und Bilder zu, die eher poetisch gespeist sind, denn erzählerisch. Ribeiro versteht seine Tänzer zeitweise als Gesamtorganismus, wie gleich zu Beginn, wenn die Männer sich zu einem Knäuel zusammenballen, der durch starke pulsierende Bewegungen zu atmen scheint, als sei er ein einziges, amorphes Lebewesen. Aus ihm lösen sich die Tänzer in ihren schwarzen Hosen und schwarzen Shirts, um nach und nach ihrer individuellen Körpersprache zu frönen. Einer unter ihnen jedoch sondert sich ab und tanzt, beinahe das ganze Stück über, seine eigene Choreografie, abseits der anderen, diese aber doch immer wie ein Gravitationszentrum umkreisend. Erst zum Schluss, als er sich aus seiner Isolation löst, geht er in der Masse auf.
Masse behandelt Ribeiro aber auch im Sinne von Masse aufheben und Schwerkraft überwinden und schafft dadurch eines der stärksten Bilder dieses Stückes. Die drei Tänzer, die mit Mitteln des schwarzen Theaters plötzlich zu schweben beginnen und auf dem Kopf stehen, oder in einer Schräglage erscheinen, die wider jedes Naturgesetz funktioniert, bilden den Höhepunkt dieser Choreografie. Vor dem schwarzen Hintergrund bieten ihre in warmes Licht getauchten Oberkörper und ausgestreckten Arme ein plastisches, einprägsames Bild, das sich leicht mit dem künstlerischen Formenkanon der christlichen Ikonografie verbinden lässt. Auch eine abstrahierte Kreuzesabnahme lässt Ribeiro in die Choreografie einfließen, die erst in der Replik so manch davor Getanztes in einem anderen symbolischen Licht erscheinen lässt. „White feeling“ verlangt, dass sich das Publikum möglichst von den Bildern assoziativ leiten lässt und bestenfalls, auch mithilfe der Musik, nicht permanent nach dem Warum, Wieso und Weshalb, nach dem „Was soll das heißen“ und „Was soll uns das sagen“ jeder einzelnen Formation fragt. Paulo Ribeiro gestattet sich hier aber auch einen kleinen Drahtseilakt, denn gerade die subtile Langzeitwirkung, mit der das Stück ausgestattet ist, könnte in der Hektik unserer Zeit, mit ihrem hohen Schlagtakt an Informationen, untergehen.
„Organic beat“, nach einer Musik von John Cage, war sicherlich eine gute Wahl, um Ribeiros Intentionen noch stärker zu verdeutlichen. John Cage schrieb das eigentlich 3-sätzige „Credo in us“ von dem hier nur die letzten beiden Sätze zur Aufführung gelangten, 1942 für seinen Freund Merce Cunningham und den Choreografen Jean Erdman. In Straßburg wurde die Musik von der Gruppe „Les Percussions de Strasbourg“ aufgeführt. Sie spielten, ganz nach den Instruktionen von Cage, neben den vorgegebenen Schlagwerkaufgaben auch zeitgemäße Soundcluster ein. Bei dieser Vorführung einen kurzen, allseits bekannten Discobeat – der zum Schmunzeln veranlasste. In diesem Stück schaffte es Paulo Ribeiro nicht nur den roten Faden von der ersten bis zur letzten Sekunde durchzuziehen, sondern es gelang ihm zusätzlich zur tänzerischen Arbeit, eine weitere Interpreationsebene hinzuzufügen. „Die Internationale“, die er die Tänzerinnen und Tänzer ganz zu Beginn singen lässt, sowie „Bella ciao“ zum Schluss, setzen dem Werk einen Metastatus auf. Die sozialistische Hymne einerseits und das während des Faschismus in Italien gesungene populäre Lied der Widerstandskämpfer auf der anderen Seite, lassen „Organic beat“ als einen Blick auf die Macht der Masse, die Möglichkeit des Auf- und Widerstandes und den Sieg über Unterdrückung, wenngleich nicht ohne Opfer, lesen. Ähnliches klang schon in „“White feeeling“ an, dennoch beeindruckte „Organic beat“ – vielleicht auch aufgrund der großen Tänzerzahl – nämlich 31 – auf viel stärkere Art und Weise.
Wiederum agiert der Choreograf hier mit Bildern der Entkörperlichung der einzelnen Personen, hin zur Schaffung von größeren, organischen Einheiten. Wie zum Beispiel in jener Sequenz, in die er, bis auf zwei, alle Tänzerinnen und Tänzer eng an eng in der Mitte der Bühnen auf dem Rücken liegen lässt. Mit ihren abgewinkelten Beinen drücken sie sich so fest aneinander, dass sie schließlich einen Mann und eine Frau über ihre Körper mit ausgestreckten Armen von einer Seite zur anderen des Menschenteppichs weiter tragen können. Neben einzelnen Charakterdarstellungen, wie jener des verrückten Mannes im Jogginganzug, der wie wild um sich schlägt und nichts als unbeteiligtes Zusehen der anderen erntet, sind es aber vor allem die kollektiv durchgeführten, synchron wiedergegebenen Szenen, die beeindrucken. Maßgeblich dazu tragen die hautfarbigen Hosen und Büstenhalter der Tänzerinnen und Tänzer bei, die so das Gefühl der Nacktheit evozieren. Die Idee Ribeiros, seine auf dem Boden liegenden und kriechenden Tänzer durch eine zeitgleiche Videoaufnahme auf die Videowall dahinter zu projizieren, erweist sich schlicht als genial. Die Menschen, die sich am Boden nur mühsam fortbewegen, scheinen auf der Leinwand seltsam fließend zu marschieren und – wie im Schlussbild – wieder mit ausgebreiteten Armen – sogar gegen den Himmel zu schweben. Ein kollektiver Auferstehungsgestus, der für sich alleine schon diesen Abend rechtfertigen würde. Die Gegenüberstellung von „White feeling“ mit seinen an wenigen Individuen festgezurrten Lebens- Leidens- und Erlösungsmetaphern und „Organic beat“, in welchem dem Kollektiv eine Heilsbotschaft zuerkannt wird, bot zusätzliches Gedankenfutter.
Verfasser: Michaela Preiner
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Schlagwörter: "Organic beat", "White feeling", CCN-Ballet de Lorraine, Cohn Cage "Credo in us", Didier Deschamps, Paulo Ribeiro, Tanztheater
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