Natürlich ist Rajasthan Teil des heutigen Indien. Und das heutige Indien ist alles andere als märchenhaft. Die diesjährige Reise durch real India hat bei mir diesbezüglich für einige Ernüchterung gesorgt. Trotzdem fühlte ich mich in Rajasthan, das wir für einige wenige Tage besuchten, wie im Märchen – oder genauer: als bewegten wir uns vor den Kulissen einer Märchenwelt. – Indien-Reisetagebuch, letzter Teil.
Wenn man von Delhi Richtung Südwesten reist, wird die Landschaft immer trockener und dürrer. Gleichzeitig werden die Kleider der Frauen immer farbiger, besonders ihre Kopftücher. Ist man in Rajasthan angelangt, sind diese Farben so satt, dass sie in den Augen einen leisen Schmerz verursachen. Rot und Gelb herrschen vor – und alle Farben dazwischen. Es ist, als trotzten die Frauen mit dieser überbordenden Farbigkeit dem unbarmherzigen Sonnenlicht und der Lebensfeindlichkeit der ausgedörrten Landschaft. Es ist, als setzten sie einen Kontrapunkt.
Das männliche Pendent dazu ist der Turban, auch dieser oft in satten Farben – oder in Weiss. Allein in Rajasthan soll es um die fünfzig verschiedene Arten geben, wie der Turban gewickelt wird. Bis zu dreissig Meter lang ist das dafür verwendete Tuch. Am Turban lässt sich Herkunft und Stand seines Trägers erkennen. In Pushkar, wo wir ein paar Tage verbrachten, ist die luftige, an ein Korbgeflecht erinnernde Bindeart verbreitet. Turban und das bunte Kopftuch der Frauen sind zwei der Elemente, die mich zuweilen vergessen liessen, dass wir uns in real India befanden, dem Indien der weit verbreiteten Armut und des Überlebenskampfs nach darwinistischem Muster.
Paläste und Kamele
Zwei weitere Elemente der märchenhaften Kulisse Rajasthans sind die Architektur und die Kamele. Es fing damit an, dass wir am Rande von Pushkar in einem Palast wohnten. (Soweit zur Stellung der westlichen Touristen im indischen Überlebenskampf.) In Pushkar wimmelt es von grösseren und kleineren Palästen. Die noble Unterkunft war in keiner Weise rollstuhlgängig. Trotzdem liess ich mich darauf ein, da Rollstuhlgerechtigkeit im Indien der Gegenwart sowieso eine Illusion ist und der Zauber der Umgebung die Nachteile bei weitem aufwog. (Und es waren meine letzten Tage in Indien. Bald würde das Leben wieder ganz anders – auch wieder selbstbestimmter.) Typisch für die märchenhafte Architektur in Rajasthan sind die vielen Erker und die kleinen, durch Säulen getragenen Kuppeln. Typisch auch die ebenmässigen Wand und Deckenmalereien, meist Blumengirlanden in üppigen Farben, die von Hand in Feinstarbeit aufgebracht werden. Was für eine Geduld und Ausdauer, was für ein Fleiss auch braucht es, um diese Malereien anzufertigen! Das sah in unserem Zimmer dann etwa so aus. Und der Palast besass an die dreissig solche Zimmer.
Die Kamele respektive Dromedare sind selbstverständlicher Teil des öffentlichen Raums in Rajasthan. Sie werden als Reittiere wie als Zugtiere eingesetzt. Ihr Gesicht hat etwas Stolzes, das sich mit Ironie vermischt. Gerade so als würden sie sich über die Menschen ganz schön lustig machen. Dabei haben sie selbst nicht viel zu lachen, nicht nur in Rajasthan. Doch nur hier habe ich gesehen, dass den Kamelen ein dünner Stab durch die Nüstern getrieben wird, damit sie einfacher zu lenken sind. Dem Vernehmen nach haben sie etwas Störrisches, einen ausgeprägten eigenen Willen. Auch dies ist in ihr seltsames Gesicht geschrieben.
Der Palast der Winde
Danach Jaipur, die Hauptstadt von Rajasthan: malerische Altstadt, Palast der Winde – die Touristenattraktion. Reisecarweise werden die fotografierenden Zaungäste herangekarrt, so dass beim Palast der Winde der Verkehr immer wieder ins Stocken gerät, nachdem ein Car seine bunte Fracht entlassen hat. Natürlich ist der Palast eindrücklich in seiner Bauart. Eindrücklicher noch ist aber sein ursprünglicher Zweck: Er wurde Ende des 18. Jahrhunderts vom damaligen Maharaja erbaut, um seinen unzähligen Haremsdamen, die sich nicht unters gemeine Volk mischen durften, einen Ausblick auf die Festumzüge zu Ehren ebendieses ihres Herrn zu ermöglichen, ohne dass sie selbst gesehen wurden. Die Beobachtungsposten waren so konstruiert, dass ein steter Wind für etwas Abkühlung sorgte. – Immerhin!
Bildnachweis: Die beiden oberen Bilder: Pushkar, India, von PnP!, CC-Lizenz via flickr; die beiden unteren: Beat Schaub
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