Am 1. Februar 1973 wurde ich der jüngste Redakteur in der Geschichte der Frankfurter Rundschau. Als Schüler hatte ich mir schon ein bisschen Geld dazu verdient, indem ich die FR am Abend, an die sich heute kaum mehr jemand erinnert, ein-, zweimal in der Woche nachmittags auf der Straße verkauft habe. Am liebsten an der Hauptwache, auf der Zeil, weil da immer viel los war und ich mit guten Verkäufen rechnen konnte.
Und dann geschah das Wunder, von dem so viele junge Menschen damals geträumt haben. Journalist werden, nicht bei irgend einem Provinzblättchen – nein, bei einer der ganz großen, renomierten Zeitungen im Land, die den Vergleich zur FAZ nicht scheuen musste: Als Redakteur der Frankfurter Rundschau.
Das war damals, als junge Journalisten schon im Volontariat lernten, dass "hermetisch abgeriegelt" Quatsch ist, weil abgeriegelt abgeriegelt ist und nicht steigerungsfähig ist. Und dass die Polizei besser nicht fieberhaft nach einem vermissten Kind sucht, sondern besser konzentriert und ohne Fieber. Ich musste lachen, als der Leiter der Nachrichtenredaktion der FR mir das mit einem leisen Grinsen sagte, Nicht nur, weil er recht hatte, sondern auch weil keiner meiner Lehrer mir das im Gymnasium je erklärt hatte und ich meine Eins in Deutsch auch ganz ohne so profunde Kenntnisse der deutschen Sprache einheimsen konnte.
Lachen musste ich auch über einen Hinweis, den er mir – als ausgewiesenem Linken in der Redaktion – gab, als ich ein Nachrichten-Feature über den CDU-Bundestagsabgeordneten Walter Leisler Kiep schreiben sollte, zu dem ich – was er nicht wusste – ein fröhlich-gutes und völlig unverkrampftes Verhältnis hatte: "Denken Sie daran, Kiep ist ein Freund des Hauses".
Weniger fröhlich war eine Redaktionskonferenz Mitte 1973, in der es um unsere Gehälter ging: "Ich bin schon froh, wenn wir alle zusammen bleiben können," sagte der damalige Chefredakteur den versammelten Redakteuren und so mancher hörte schon damals ganz leise ein Totenglöckchen traurig klingen.
Ich habe die FR 1975 verlassen. Den Niedergang als anderen Redaktionsstuben beobachtet, sie noch drei Jahrzehnte fast jeden Tag gelesen. Und mich leider immer mehr geärgert. Erst verschwanden die übertariflichen Zulagen, dann kam Gehaltsverzicht zur Rettung des Blattes, das es versäumt hatte, die an Gratis-Anzeigenblätter verlorenen Auto- und Wohnungsanzeigen durch die Erschließung neuer Anzeigenmärkte auszugleichen, wie es die FNP durch Übernahme zahlreicher kleiner und alleine nicht überlebensfähiger Umlandblätter erfolgreich vorgemacht hatte.
Mit meinem Redakteursvertrag musste ich noch unterschreiben: "Die Haltung der Zeitung ist linksliberal". Das war damals, als links noch hieß. die Arbeitnehmerrechte zu stärken, mehr Demokratie zu wagen, wie Willy Brandt es formulierte, ohne dieses Versprechen je einzulösen und als die FDP mit ihrem Generalsekretär und ehemaligen FR-Redakteur Karl-Herrmann Flach noch oder nicht mehr für menschenverachtenden Wirtschaftsliberalismus stand, sondern mit ihren "Freiburger Thesen" als Hauptaufgaben des Liberalismus die Verteidigung und den Ausbau der freiheitlichen Bürgerrechte, des Sozialstaats und der Friedenspolitik sah.
Am Ende ist vom linken Liberalismus der FR nicht mehr viel geblieben. Nicht nur, weil es den in Deutschland schon lange nicht mehr gibt, sondern auch, weil schlecht bezahlte Redakteure selten gute Redakteure sind (ja, das gilt leider zum Teil auch für die taz, weil Idealismus alleine sich im Laufe der Jahrzehnte abnutzt). Und so musste ich in der FR zum Beispiel im hessischen Landtagswahlkampf der Spitzenkandidatin Andrea Ypsilanti Tag für Tag Propaganda des rechten SPD-Flügels gegen die eigene Landesvorsitzende lesen. Die Meinung von Andrea Ypsilanti entnahm ich stattdessen der konservativen Konkurrenz, der FAZ, bei der man noch nicht vergessen hatte, was ich einst bei der FR gelernt hatte: Die Trennung von Bericht und Kommentar.
Als die FR schließlich zum Wurmfortsatz der Berliner Zeitung wurde und nur noch ein paar müde Lokalseiten selbst produzieren durfte, hatte ich ein paar Tränen in den Augen, als ich mich entschloss "meine" Frankfurter Rundschau nicht mehr zu lesen, ihren Todeskampf nicht live miterleben zu wollen.
Heute las ich dann erst bei kress online, dann bei Spiegel Online, dass die Frankfurter Rundschau Insolvenz angemeldet hat. Und ich weiß: Selbst wenn es dem Insolvenzverwalter gelingen sollte, irgendwelche Fragmente zu erhalten – meine FR ist tot. Nicht erst seit heute. Und trotzdem macht es mich traurig...