“In Hessen steht die direkte Demokratie seit 20 Jahren still” – Interview mit Holger Kintscher

Von Politropolis @sattler59

Politropolis: Holger Kintscher, Sie sind Vorsitzender des Landesverbandes Hessen von “Mehr Demokratie e.V.“. Was will Ihr Verein erreichen?

H.K.: Mehr Demokratie e.V. ist ein bundesweit tätiger, gemeinnütziger Verein. Wir wollen, dass die Bürger mehr Möglichkeiten erhalten, an der Politik mitzumachen, mitzubestimmen und mitzugestalten. Der Verein setzt sich insbesondere für die Einführung des bundesweiten Volksbegehrens und Volksentscheids ein sowie für die Verbesserung der Direkten Demokratie auf Landes- und Gemeindeebene. Um dies zu erreichen, informieren wir bundesweit über direktdemokratische Verfahren. Wir mischen uns ein und beraten Initiatoren von Bürgerbegehren.
Wir wollen bürgerfreundliche Verfahren! Die Hürden sind zu hoch!

Politropolis: Im Land Hessen -sagen Sie, Herr Kintscher- stünde “die direkte Demokratie seit 20 Jahren still” und auf Landesebene sei sie sogar gänzlich eingeschlafen. Wie ist das zu verstehen?

Holger Kintscher (Mehr Demokratie e.V. Hessen) : “Die Hürden für Bürgerentscheide sind viel zu hoch!” – Foto: © H.K. mit freundlicher Erlaubnis

H.K.:Die Formulierung “In Hessen steht die Demokratie seit 20 Jahren still” stammt eigentlich nicht von mir selbst. Sie stammt von unserer Mailing-Redaktion, die in einem Rundschreiben auf die Demokratie-Defizite in unserem Bundesland aufmerksam machen will.
Hinsichtlich Volksentscheiden ist fest zu stellen, dass es seit 65 Jahren keinen einzigen Volksentscheid aus der Mitte des Volkes gegeben hat. Der Grund: “die Hürden haben sich als zu hoch erwiesen” (Helmut Schwan in der FAZ vom 24.07.10) bzw. “die Hürden für die Mitbestimmung des Volkes liegen in Hessen besonders hoch” (Pitt von Bebenburg in der FR vom 26.08.10). Im Länderranking von Mehr Demokratie ist Hessen aus diesem Grund das Schlusslicht aller 16 Bundesländer (siehe hierzu Seite 16 des Volksbegehrensberichts 2015 ).

Politropolis: Eine Reform zu kommunalen Bürgerentscheiden hat die schwarz-grüne Regierung nun vorgelegt. Das ist doch “eigentlich” eine gute Sache. Wieso ist halten Sie die Reform in der jetzt geplanten Fassung für Makulatur?

Der Gesetzentwurf der schwarz-grünen Landesregierung will das Zusstimmungsquorum in § 8 b Absatz 6 der Hessischen Gemeindeordnung (HGO) bei Gemeinden und Städten bis 50.000 Einwohnern bei 25 Prozent belasssen, bei Städten bis 100.000 Einwohnern auf 20 Prozent und bei Städten ab 100.000 Einwohnern auf 15 Prozent senken. Diese Änderung betrifft ganze 12 von insgesamt 426 Städten.

Mehr Demokratie fordert, dass – wie bei Bürgermeister- und Landratswahlen – die Mehrheit der abgegebenen Stimmen entscheidet und somit die Streichung eines Zustimmungsquorums in der HGO.

Darüberhinaus fordert Mehr Demokratie die Streichung (und damit die Wiederzulassung) der Bauleitplaung aus dem Themenausschlusskatalog; den Verzicht auf einen Kostendeckungsvorschlag und statt dessen eine Kostenschätzung durch die Kommune; eine Informationsbroschüre vor dem Bürgerentscheid sowie die Einführung obligatorischer Referenden bei der Privatisierung von kommunalem Eigentum zur Daseinsvorsorge (ausführliche Informationen dazu finden Sie unter “Weiterentwicklung der direkten Demokratie in Hessens Kommunen” unter www.mehr-demokratie-hessen.de)

Politropolis: Mit welchen Maßnahmenn sollte Ihrer Meinung nach “mehr Demokratie” in Hessen durchgesetzt werden?

H.K.: Ausser den Erleichterungen bei Bürgerbehren und Bürgerentscheid gilt es wie schon erwähnt, das Verfahren beim Volksbegehren und Volksentscheid grundlegend zu reformieren. Der Vorstand von Mehr Demokratie Hessen hat dazu im November 2014 ein Gespräch in der Hessischen Staatskanzlei geführt. Der von der schwarz-grünen Landesregierung geplante “Verfassungskonvent” mit Beteilung nichtparlamentarischer Interessengruppen sollte 2015 statt finden, ist derzeit aber noch nicht terminiert.

Politropolis: Wie sieht es in den anderen Bundesländern aus? Sind die Anforderungen für kommunale Entscheide von Land zu Land sehr unterschiedlich? (Würde eine Vereintheitlichung der “Spielregeln” Sinn machen?)

H.K.: Dazu haben wir aussagekräftige Berichte vorgelegt, die für sich selbst sprechen. Volksbegehrensbericht 2015 (http://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/pdf/volksbegehrensbericht). sowie den Bürgerbegehrensbericht 2014 (http://www.mehr-demokratie.de/fileadmin/pdf/bb-bericht2014.pdf) von Mehr Demokratie e.V.

Eine Vereinheitlichung der “Spielregeln” würde zwar Sinn machen, aber andererseits eindeutig gegen das Prinzip des Föderalismus verstoßen. Von daher müssen diese Voraussetzungen in den Bundesländern selbst geregelt werden.

Politropolis: Was sollte auf Landes- und Bundesebene unternommen werden, damit Bürger mehr demokratische Entscheidungsbefugnisse erhalten?

H.K.: Mehr Demokratie fordert seit mehr als 25 Jahren, die Partizipation der Bürgerinnen und Bürger zu erleichtern. Statt einer “Wahldemokratie”, bei der ausschließlich Kandiatinnen und Kandidaten gewählt werden, sollte dem Volk die Möglichkeit gegeben werden, auch über Sachthemen zu entscheiden.

Zentrale Forderung von Mehr Demokratie ist seit Gründung des Vereins die Forderung nach einem bundesweiten Volksentscheid.

Politropolis: Vielen Dank Herr Kintscher, dass Sie sich die Zeit für das Interview genommen haben.


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Quellen – weiterführende Links

Das Interview führte Hans-Udo Sattler für Politropolis.de
Foto: © H.K. mit freundlicher Erlaubnis
Direkte Links:
“Mehr Demokratie e.V.” Bund
“Mehr Demokratie e.V.” Hessen