In einem einzigen Moment zeigt sich der Charakter

Chris Thorpe, britischer Schriftsteller, ist einer jener Autoren, die der neue Direktor des Schauspielhauses, Thomas Schweigen, dem Publikum näher vorstellen möchte.

Sein Stück „Möglicherweise gab es einen Zwischenfall“, hatte am 6. November Premiere. Man könnte das Werk auf den ersten Blick für tiefschwarz halten, beim genauen Hinhören und Hinsehen aber ist es zugleich auch unglaublich tröstlich.

In der Regie von Marco Štorman, die man auf weite Strecken hin ohne Weiteres als abstrakt bezeichnen kann, werden nicht so sehr die Charaktere der Beteiligten herausgearbeitet. Vielmehr stehen Erlebnisse im Vordergrund, die sie an einem bestimmten Punkt ihres Lebens zum Handeln gezwungen haben. Was davor und was danach ihr Leben bestimmte, wird nur vage angedeutet.

Sie sind zu dritt. Aber es sind vier Geschichten. Geschichten aus dem Leben von vier Menschen. Auf der Bühne stehen drei Schreibtische. Die beiden Frauen und ein Mann lächeln unverbindlich ins Publikum. Sie werden ihm Ereignisse erzählen, die nicht zum Lachen sind. Aber muss man sein ganzes Leben lang Trauer im Gesicht tragen, auch wenn man Schreckliches erlebt hat?

Die Handlungsstränge verzahnen sich nicht, aber sie gehorchen einer eigenen Rhythmik. Die Geschichten ähneln sich nicht. Aber sie steuern auf einen bestimmten Höhepunkt zu. Thorpe lässt eine Politikerin zu Wort kommen, die maßgeblich zum Sturz der Diktatoren ihres Landes beitrug; eine Frau, die ein neues Leben beginnen möchte und der ein Flugzeugunglück dabei dazwischen kommt; einen Mann, der Zeuge wird, wie sich jemand aus der Menschenmenge löst und sich demonstrativ einer Kompanie von Panzern in den Weg stellt. Und dann ist da noch jener Terrorist, der im Jugendparlament kaltblütig Jugendliche abschlachtet, um die Überfremdung in seinem Land einzudämmen. Von ihm erfährt man seine Motivation anhand eines Verhöres, bei dem er bereitwillig Auskunft gibt. Er ist der einzige, der sich nicht in einer unvorhergesehenen Situation für oder gegen etwas entscheiden muss. Vielmehr steigert sich bei ihm die Schuld, die er auf sich genommen hat, noch zusätzlich durch die minutiöse Vorbereitung auf die Tat. Der Mann hingegen, der sich ohne zu zögern auf ihn stürzt, um ihn am weiteren Abschlachten zu hindern, er gehört zu jenen Helden, die zeigen, dass es tatsächlich Menschen gibt, die diese Bezeichnung auch zu Recht tragen.

Steffen Link, Vassilissa Reznikoff und Sophia Löffler (c) Arnim Friess

Der Autor zeichnet aber nicht nur einen Querschnitt an zeitgemäßen Katastrophen und Momentaufnahmen nach, die bewusst reale Vorbilder haben. Das wäre zu einfach. In seinem Stück wird gleichzeitig die ganze Bandbreite von menschlichem Sein aufgezeigt. Begonnen von Altruisten und emphatischen Personen, die im entscheidenden Fall nicht ihr Leben, sondern das der anderen schützen möchten, bis hin zu solchen, für die das Leben an und für sich keinen Wert hat. Thorpe macht dabei klar, dass Schicksalsmomente durch Entscheidungen von einzelnen Personen geschrieben werden. Durch ihr Tun oder Unterlassen. Durch ihre Handlung oder auch einen Rückzug. Er macht auch klar, dass es dafür kein Patentrezept gibt und auch keine Voraussage, die getroffen werden kann, wie jemand im Fall der Fälle tatsächlich agiert. Wahrscheinlich weiß niemand von uns, wie wir uns selbst in einer unvorhergesehenen Situation verhalten würden, die rasches Handeln verlangt. Ein Handeln, von dem die Zukunft von Menschen auf dem Spiel steht.

Steffen Link, Sophia Löffler und Vassilissa Reznikoff wechseln häufig von der Bühne ins Off, werden gefilmt, oder filmen selbst die anderen. Sie erwecken bei ihren Erzählungen den Eindruck, als seien ihnen ihre Entscheidungen fremd, ja vielmehr, als ob die Bruchteile von Entscheidungssekunden mit reflektiertem Handeln gar nichts zu tun hätten. Mit dieser Herangehensweise nähert sich Thorpe auch jenem Diskussionsfeld, das die Freiheit der persönlichen Entscheidung per se infrage stellt.

„Möglicherweise gab es einen Zwischenfall“ bietet eine Menge von Reflexionsebenen an. Mit dieser zweiten Produktion demonstriert das neue Team am Schauspielhaus, wie auch schon in „Punk und Politik“, seine Idee von Theater, die mit zeitgenössischen Autoren das Hier und Heute erkundet. Thorpe tut dies zwar anhand der ausgewählten Geschichten, die er unserer Gesellschaft entnimmt, aber er schafft auch den Dreh zu einer Zeitlosigkeit. In ihr verwandelt sich das Aktuelle zur allgemein gültigen Aussage über die Conditio humana, nämlich dass Menschen, wenn es darauf ankommt, alles sein können. Von gut bis böse und auch alles dazwischen.

Chris Thorpe ist am 15. November persönlich mit seinem politischen Monolog „Confirmation“ im Schauspielhaus zu Gast.

Nähere Informationen auf der Internetseite des Schauspielhauses.

PS: Für alle, die sich das Team des Schauspielhauses gerne an die Wohnzimmerwand hängen möchten, hier noch ein Tipp: Im Programmheft findet sich wie weiland in den Bravo-Heften ein Starschnitt von Sophia Löffler. Im Maßstab 1:6.37! Auf zum munteren Schnippeln!


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