Dieser Tage wird mal wieder eine Studie zitiert ("Die Mitte in der Krise"), die empirisch wissenschaftlich und repräsentativ der Deutschen ihre Einstellungen befragte. Was mich dabei wundert, ist die teilweise Verwunderung der Journalisten über die hohen Werte bei ausländerfeindlichen, islamophoben und chauvinistischen Einstellungen der Bevölkerung. Da ich mich schon seit Jahren damit beschäftigte, habe ich schon zahlreiche ähnliche Studien gelesen, mit ähnlich hohen Werten - auch unabhängig von dem ausführenden Institut, z.B. auch von der CDU-nahen Konrad Adenauer Stiftung. (Da sicherlich von einigen gleich das "Totschlagsargument" der interessensorientierten Durchführung der Studie kommen wird.)
Denn es gibt ja schon seit den 90ern immer wieder Berichte von Auswüchsen dieses Rassismus auch bei ganz normalen Bürgern. Oft dort am offensichtlichsten, wo die Deutschen den wenigsten persönlichen Kontakt zu Migranten haben, in Ostdeutschland. Diese kommen allerdings meist nur dann in die Medien, wenn deren Auswirkungen etwas mehr als die ganz "gewöhnliche" nicht selten alltägliche Diskriminierung von Migranten darstellen, wie z.B. in diesem Bericht über eine Pfarrersfamilie:
"Der kleine Jannik wollte sich die Haut mit der Bürste weiß schrubben
Beschimpft, bespuckt, verprügelt - von ganz normalen Bürgern. Weil sie den alltäglichen Rassismus nicht mehr erträgt, flüchtet eine Pfarrersfamilie aus dem Osten zurück ins Rheinland. Im thüringischen Rudolstadt versteht man die Welt nicht mehr - und sorgt sich um seinen Ruf."
Ein Bericht zur neuen Studie:
"Wie groß Sarrazins Basis wirklich ist
Sie würden den Vorwurf weit von sich weisen, doch viele Deutsche haben ausländerfeindliche und chauvinistische Einstellungen. Eine alarmierende Rechtsextremismus-Studie macht klar: Die Radikalen in der Mitte der Gesellschaft sind zum Risiko für die Volksparteien geworden.
(...) Die Wahlergebnisse [der NPD] mögen schlecht sein - die Haltung der Radikalen sind aber weiter verbreitet als vielfach vermutet. Millionen Menschen, die den Vorwurf rechtsextremer Denkmuster wohl empört von sich weisen würden, sind der Studie zufolge durchaus chauvinistisch, ausländer- oder islamfeindlich, antisemitisch oder totalitären Gedanken zugetan.
(...)"Die Bedrohung der Demokratie ist nicht von den Rändern zu sehen", stellen die Autoren in ihrem so nüchternen wie alarmierenden Fazit fest, "sondern aus der Mitte der Gesellschaft heraus.""
Und dabei ist die Studie sogar noch vor dem Hype um das Buch von Thilo Sarrazin gemacht worden. Danach würde sich sicherlich ein Bild ergeben, welches noch drastischer ist, denn inzwischen ist der Topos "Das wird man doch wohl noch sagen dürfen..." salonfähig bis in alle Schichten der Gesellschaft geworden. Insofern ist der Titel des Artikels nicht ganz korrekt.
Hier werden weitere Daten der Studie vorgestellt:
Dabei spielt es oft keine Rolle, auf wen sich die Sündenbockmechanismen beziehen, ob auf Afrikaner, auf Araber und Türken, oder allgemein auf Muslime, sofern die Personen sich wenigstens optisch oder vom Namen her von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden.
Hier hat z.B. Günter Wallraff schon in seinem Film "Schwarz auf Weiß" den Alltag eines Afrikaners verdeutlicht:
Hier gibt es den weiteren Verlauf des Filmbeitrages.
Nun gibt es diverse Erklärungsmuster, wieso denn die Deutschen, trotz Entnazifizierung, trotz Bemühungen mit den Lehrplänen, usw. einen so hohen Prozentsatz an Positionen des frühen 20. Jahrhunderts vertreten.
Diese mögen alle richtig sein, allerdings ein für mich auch entscheidender Faktor mag sicherlich sein, dass viele Menschen im Lande noch immer nicht die Erkenntnisse der modernen Ethnienforschung kennengelernt haben, im Gegenteil, in Denkstrukturen verharren, die von einem antiquierten Rassebegriff ausgeht und diesen seit einigen Jahren auf den Kulturbegriff zunehmend übertragt (Kulturalismus als Neorassismus).
Fatalerweise betrifft diese Unkenntnis nicht nur breite Bevölkerungsschichten, sondern ebenfalls viele Journalisten und Politiker, auch jüngst immer wieder, womit sich dieses Bild, diese Fehlannahme so hartnäckig halten kann, da Medien sich potenzierend als Meinungsbildner auswirken. Denn dieses ist die Grundlage, damit überhaupt Feindbilder entstehen und wirken können.
Auch in meiner bildungsferneren Verwandtschaft finden sich immer noch diese Vorstellungen aus den Anfängen des 20. Jahrhunderts, ebenso wie bei meinen bildungsferneren türkischen Bekannten.
Im 19. Jahrhundert herrschte eine Vorstellung über Völker, die als gefragt wurde, was den Charakter eines Franzosen, eines Deutschen, usw. ausmache und als Nationen ein Verhalten wie Personen unterstellt wurde (Franzosentum, Deutschtum, etc.). Gleiches wurde auch mit Religionen wie dem Islam versucht, und versucht man bis heute. essentialisierte.
Man wollte einen "Charakterkern" einer "Person" namens "Chinese", "Deutscher", "Spanier", "Afrikaner", "Islam" herauspräparieren,
Das Problem dieses veralteten Vorgehens des 19. Jh. ist schlichtweg, dass sie den empirischen Tatsachen und Quellenfunden nicht standgehalten haben.
Ein Beispiel: Das Rechtssystem des Islam ist zu Zeiten der Hidschra noch gar nicht voll ausgearbeitet, eher sehr rudimentär, bedeutet es nun, es gehört nicht zum "Charakter des Islam"?
Wenn man Kulturen nicht mehr in rassischer Weise definieren möchte, wie es offensichtlich in obiger Studie sehr viele Menschen in Deutschland immer noch tun, und dieses auch auf Religionen ausdehnen, und man bedenkt, dass eigentlich der moderne Kulturbegriff ja Anfang des 20. Jahrhunderts eingeführt wurde, um dem Rassebegriff entgegenzutreten, sollte man also wissen, was heute (u.a.) darunter verstanden wird:
Annäherungsweise kann man sagen, dass Kultur die Gesamtheit von Kommunikationstechniken und -systemen derer sich die Menschen bedienen und bedienen müssen ist. Der Mensch ist ein soziales Wesen. Als soziales Wesen muss der Mensch kommunizieren. Damit einher geht das Erlernen von einem vielschichtigen Satz von Techniken und Strategien um zu kommunizieren, also eines komplexen Gesamtsystems, was ein Kind tagtäglich erlernt (Sprache, Mimik, Wortbedeutungen, etc.). Dazu muss vorher ein gemeinsamer Nenner gegeben sein, indem die Kultur als selbstverständlich und nicht fremd angesehen wird, damit man sich überhaupt versteht, also ein Satz von Vorannahmen.
Einfachstes Beispiel ist die Sprache. Ein Kleinkind könnte z.B. alle Laute aller Sprachen aussprechen, z.B. das für Deutsche schwierig auszusprechende 'Ayn des Arabischen. Der Vorgang des Erlernens des Kommunikationssystem Kultur ist nichts weiter ein langgezogener Prozess des Verlernens, des Vergessens, so dass wir heute das Ayn erst mühsam wieder erlernen müssen. Kultur ist praktisch ein Betriebssystem des Menschen, dass man nicht bemerkt, man bemerkt es erst, wenn etwas fremd erscheint, z.B. der arabische Buchstabe Ayn.
Im 19. Jh. dominierten Theorien, indem die Unterschiede der Völker (rassistisch) durch die Biologie (Gene) und das Klima erklärt wurden. Als eine Kombination der beiden ( Rassentheorie). Sie gingen davon aus, ohne es zu beweisen, dass Rassen existierten, in einer Rangfolge von höherwertig und niedrig geordnet.
Dann kam die Theorie auf, dass Menschen sich weltweit unterscheiden, weil sie unterschiedliche Kulturen entwickelten. Da Kultur von Kindheit an angelernt ist, unterscheidet es sich fundamental von der vorigen Rassen-Theorie. Es ist also nicht mehr quasi ein "Naturgesetz", dass ein Mensch von Geburt an dumm, schlau, faul, fleissig ist, sondern es hängt davon ab, in welcher Kultur das Kind aufwächst. Menschen und Völker können also ihre Verhaltensweisen und charakteristischen Eigenschaften im Laufe der Zeit verändern. Kultur ist also nicht statisch (wiewohl er heute oft statisch verwendet wird, siehe deutsche Leitkulturdebatte).
Dann kamen in den letzten 20-30 Jahren weitere Theorien hinzu, um die Vergangenheit besser erklären zu können, die ich hier nur anschneide:
Konstruktivistische Ansätze, also moderne Nationen sind konstruiert:
- Imagined Communities (Vorgestellte Gemeinschaften) von Benedict Anderson:
Nationen sind vorgestellte Gemeinschaften, nicht naturgegeben, erst entstanden im 18./19. Jh. mit der Verbreitung von Massenmedien (Zeitungen), die ein Gemeinschaftsgefühl produzierten. - Invented Traditions (Erfundene Traditionen) von Habsbawm/Ranger:
Nationalismen brauchen Symbole zur Identifikation, die für sich beanspruchen müssen, der Nation bereits vorauszugehen. Z.B. ist der Schottenrock erst im 19. Jh. richtig populär und als typisches Merkmal der Schotten in Erscheinung getreten, es war quasi eine Schreibtischtat, eine erfundene Tradition wie der Dudelsack. Geschaffen, um Identität zu stiften. Mel Gibson trug im Film "Braveheart" zwar einen Kilt, einen Schittenrock, dieses ist aber unmöglich gewesen und historisch falsch, denn damals gab es diese noch gar nicht.
Bislang nahm man im 19. und Anfang des 20. Jh. an, Nationen gäbe es schon lange, und sie formierten sich nach der französischen Revolution 1789. Es hätte also schon lange eine französische, eine deutsche, eine schottische Nation gegeben, und nun im 19. fand diese Nation im Nationalstaat einen Rahmen, der dieser Nation entspräche. Diese veralteten Vorstellungen erzeugten Legitimität.
Wenn sich obige Erkenntnis zuerst in breiterer Form wie bislang bei Journalisten und Politikern festsetzen und kommuniziert würde, dann würden auch breitere Bevölkerungsschichten eine der wesentlichen Grundlage entzogen werden. Denn dann hätte man nicht mehr die Vorstellung "der" Islam, "der" Türke, "der" Afrikaner wäre per se dumm, faul, gewalttätig, usw., sondern würde die Sozialisation, den Bildungsgrad, die Dynamik und Veränderlichkeit (!) usw. viel stärker wieder in den Fokus rücken, wo es als Erklärungsmuster für durchaus vorhandene Missstände auch hingehört.