In 57 Sekunden wurden Ihre Adressdaten zur Ramschware

Von Stefan Sasse
Die schnelle Abhandlung der Gesetzesvorlage zum neuen Meldegesetz, das effektiv die Daten jedes Bürgers an die Adressmafia ausliefern würde, hat für gewaltigen Wirbel gesorgt. Nicht nur spülte sie das Thema des Gesetzes selbst an die Oberfläche und sensibilisierte die Öffentlichkeit für Datenverkäufe. Die Blitzumsetzung in nur 57 Sekunden, inklusive zweier Lesungen und Abstimmungen, rief darüber hinaus, milde ausgedrückt, Unverständnis hervor. Dank dem Video-Beweis konnten sich zahllose Menschen direkt davon überzeugen, wie ein solches Gesetz manchmal verabschiedet wird. Soweit kennt die Affäre nur Verlierer. Die Regierungsfraktion musste sich schleunigst von ihrem eigenen Enwurf distanzieren, die Opposition hatte das 57-Sekunden-Desaster ebenfalls mitgemacht, und die eigentlichen Gewinner des Gesetzes, die Adressenmafia, steht nun im grellen Rampenlicht. Einen Gewinner kennt die ganze Affäre daher nicht. Was also war geschehen? Handelt es sich um ein Totalversagen des Parlamentarismus, stellt die ganze Angelegenheit eine tiefe Krise innerhalb des Systems bloß? Vieles scheint dafür zu sprechen. Die Reden beispielsweise wurden zu Protokoll gegeben, nicht gehalten, die fixen Abstimmungen waren geradezu automatisiert, und anwesend waren nicht einmal 30 Abgeordnete (zum Vergleich: für eine Beschlussfähigkeit des Parlaments müssten 311 Abgeordnete anwesend sein; diese Unterbesetzung hatten SPD und Grüne kürzlich genutzt, um das Erziehungsgeld zu verzögern). Bevor eine Bewertung vorgenommen werden kann, muss aber erst einmal die Funktionsweise des Parlaments in diesen Angelegenheiten geklärt werden.
Die Verwunderung etwa über die geringe Zahl der Anwesenden dürfte sich kaum auf diesen Termin alleine beschränken. In voller Zahl anwesend sind die Abgeordneten im Parlament ohnehin nur zu öffentlichkeitswirksamen Terminen und Abstimmungen, so etwa in den Haushaltsdebatten - also dann, wenn die Bilder es auch in die Tagesschau schaffen. Es macht auch keinen Sinn, ständig 600 Mann hoch im Parlament sitzen zu lassen; was sollen sie da auch? Es ist völlig unmöglich, über alle abzustimmenden Gesetze jederzeit so informiert zu sein, dass man in den eigentlich zu haltenden Debatten (die ja in den 57 Sekunden offiziell hätten stattfinden sollen) irgendetwas Substantielles beitragen kann. Erstellt werden Gesetze in den Ausschüssen, in diesem Fall im Innenausschuss. Die eigentliche Abstimmung im Parlament ist hier nur noch Formsache. Das gilt übrigens auch für die "großen" Termine, bei denen die prominenten Politiker dann ihre Reden halten. Das kann man als "Debatte" bezeichnen, aber mehr als ein Schaulaufen ist es nicht - die Entscheidung ist zu diesem Zeitpunkt längst gefallen. Die eigentliche Debattenarbeit erfolgt in den jeweils verantwortlichen Ausschüssen. Das funktioniert in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle auch so gut, dass die eigentliche Abstimmung einer Art "Rumpfparlament" überlassen werden kann. Dieses bildet übrigens die Mehrheitsverhältnisse ziemlich exakt ab - das ist die Wirkung des so genannten "Pairing-Abkommens" zwischen den Fraktionen, das dafür sorgt, dass bei Fernbleiben eines Abgeordneten einer Fraktion auch Abgeordnete der anderen Fraktionen fehlen und die Mehrheitsverhältnisse gleich bleiben. Dieser "Burgfriede" wird nur bei essentiellen Abstimmungen gebrochen. Das ist auch nötig; das Parlement könnte sonst kaum arbeiten, weil die Abgeordneten ständig an den Plenarsaal gefesselt wäre, anstatt in Ausschüssen oder anderswo zu wirken.
Genau an dieser Stelle aber lief beim Meldegesetz wohl etwas schief. Der Entwurf, den der Innenausschuss vorbereitet hatte und der in den 57 Sekunden nur abgenickt wurde, war ursprünglich wohl reichlich harmlos gewesen - und das auch der Grund, warum er in einem Verfahren durch das Parlament ging, das rund 90% aller Gesetze betrifft - die Gesetze nämlich, über die in den Fraktionen effektiv Konsens herrscht oder die einfach zu unwichtig sind, um in einer Auseinandersetzung politisches Kapital aufzuwenden. Es ist das Alltagsregieren ohne große Konflikte. Nur, in der letzten Sitzung des Innenausschusses hatten Hans-Peter Uhl (CDU) und Gisela Piltz (FDP) die umstrittene Änderung ins Gesetz geschmuggelt - anders kann man das kaum sagen. Warum das geschehen ist, wie es geschehen ist, ist unklar. Piltz zeigt mit dem Finger auf Uhl, und nach Berichten anderer Parlamentarier war er es auch, der den meisten Druck in diese Richtung ausübte, was durchaus auf sein Profil passen würde. Vielleicht war es auch eine Art Rache der schwarz-gelbe Koalition für die Schlappe beim Betreuungsgeld, indem man die parlamentarischen Spielregeln dieses Mal gegen Rot-Grün in Stellung bringt. Pech nur, dass die Angelegenheit ans Licht kam. Das Versagen scheint hier weniger im Parlament und seinen Spielregeln selbst zu liegen als vielmehr am Ausschuss, der für die Abfertigung des Gesetzes verantwortlich und wohl nicht in der Lage war, diese Form zu verhindern. So oder so kennt die Affäre aber nur Verlierer und ist kaum dazu angetan, das Vertrauen in die Politik wieder herzustellen.


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