Improbable - The Paper Man (Foto: Martin Hauer)
Was zu Beginn wie eine einfache Geschichte über Fußball und Nazis anmuten mag, entpuppt sich als tiefgehende Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Kernproblemen. Spielerisch hinterfragt The Paper Man die patriachische Gesellschaftsordnung, das Weiße Privileg, vorherrschende Narrative und Machtstrukturen.
The Paper Man, eine Produktion der renommierten britischen Theaterkompanie Improbable, versucht die Geschichte des österreichischen Fußballstars Matthias Sindelar zu erzählen, von dem es heißt, er habe sich gegen das Nazi-Regime gestellt, indem er mit seinem „Wunderteam“ gegen Deutschland nach dem Anschluss 1938 gewonnen hat. Dieses sogenannte „Anschlussspiel“ war das letzte des österreichischen Teams bevor es der Nationalmannschaft Nazideutschlands einverleibt wurde. Einige Monate nach dem Spiel wurde Sindelar tot aufgefunden.
Obwohl die Geschichte Sindelars alles hätte, was einen großen Hollywood Blockbuster ausmacht, schlägt The Paper Man eine völlig andere Richtung ein. Mit der requisitenlosen Bühne, abgesehen von einem riesigen, kreuzähnlichen Gebilde, das ausgeklappt werden kann, macht die Show gleich von Beginn an klar, dass es keine traditionelle Theaterproduktion mit einer klaren Story-Line, gewissen Typen oder Spannungsbogen sein wird. Die drei britischen Schauspielerinnen Vera Chok, Jess Mabel Jones und Anna-Maria Nabirye, mit ihren unterschiedlichen Hintergründen, bilden nicht nur den Gegendiskurs zu Lee Simpsons weißem, männlichen Narrativ, und beziehen so die weibliche Perspektive sowie ethnische Aspekte mit ein. Die PerformerInnen hinterfragen auch die Natur eines Narratives und debattieren inwiefern eine Geschichte von der Person abhängt, die sie erzählt; wie sich eine Geschichte durch den/die GeschichtenerzählerIn verändert, und welche Geschichten eigentlich erzählt werden müssen. An einer Stelle insistieren die Darstellerinnen: „We don’t need a story about another dead white man“.
Improbable – The Paper Man (Foto: Martin Hauer)
Auf wundervolle Art und Weise verwebt The Paper Man all diese Fragen und Geschichtsfragmente zu einer intuitiven und locker geflochtenen Performance, die Improvisationstheater, Schattentheater, eine Fragerunde und ZuschauerInnenbeteiligung umfasst. Dieses höchst selbstreferenzielle Mosaik aus Geschichtsstückchen, Fußballfakten und purer Emotion wird vom Thema Fußball und der Geschichte Sindelars zusammengehalten, die wirkungsvoll von Adrienne Quartly, die auch ihre Geschichte zum Stück beisteuert, und ihrem Sound Design akzentuiert wird.
Matthias Sindelar wurde “Der Papierene” aufgrund seiner schmalen Statur genannt. Das Element Papier zieht sich passenderweise auch durch die Performance, im metaphorischen wie im buchstäblichen Sinne. Weißes Papier ist als Leinwand für die Schattenspiele im Einsatz, die ein Wiener Kaffeehaus und einen Londoner Club repräsentieren oder die vielfältige Struktur und Story des Stücks durch dynamische Lichtfragmente widerspiegeln. Weißes Papier wird aber auch mit den dominierenden patriarchischen und ethnischen Gesellschaftsstrukturen in Verbindung gebracht, in welchen sich Gegenkulturen oder Randgruppen bewegen und darum kämpfen müssen gehört zu werden. An einem Punkt im Stück erklärt ein Mitglied der Besetzung: “I tell my story on blank white paper”, und bezieht sich damit auf eine Gesellschaft, die nach wie vor von weißen Männern kreiert und dominiert wird.
Improbable – The Paper Man (Foto: Martin Hauer)
Während The Paper Man kläglich (und absichtlich) daran scheitert, Sindelars Geschichte zu erzählen, erschafft das Stück etwas bei weitem Größeres. Sindelars Geschichte ist bloß der Vorwand, der den Anstoß zu einer wahrlich unerbittlich ehrlichen und spielerisch mutigen Auseinandersetzung mit den wunden Punkten unserer Gesellschaft gibt, wie etwa Fragen von Herkunft und Geschlecht und, folglich, von Diskurs, Narrativen und der Kunst selbst. Wie endet also eine Geschichte, wenn die Regeln von einem/r anderen ErzählerIn festgelegt werden? Wir tanzen; wir tanzen, um uns kennen zu lernen.
The Paper Man hatte seine Premiere am Norfolk und Norwich Festival in England, Großbritannien im Mai 2018 und wurde beim Straßenkunstfestival La Strada in Graz, in Österreich am 1. und 2. August dieses Jahres aufgeführt. Zu Jahresanfang 2019 wird die Show auf UK-Tournee gehen und von 11. Februar bis 8. März im Soho Theatre, in London zu sehen sein.