Wir kennen sie alle noch aus unserer Schulzeit: die altehrwürdige Schultheateraufführung. Eine Handvoll blasser Schülerinnen und Schüler vergreift sich, häufig angefeuert von einem überambitionierten Deutschlehrer, an einen der beliebten Theaterklassiker. Bert Brecht, Schiller und Büchner stehen seit Jahrzehnten auf der Beliebtheitsskala der Germanisten ganz hoch im Kurs.
Meist wird der wohlgesonnene Zuschauer Zeuge, wie die Jungschauspieler mehr oder weniger teilnahmslos die viel zu langen, häufig noch gereimten Texte aufsagen und dabei völlig vergessen, dass sie auch auf der Bühne einen Körper besitzen, den sie ins Spiel einbeziehen können. Während sich manches stolze Elternteil gedanklich schon die glanzvolle Zukunft ihres Sprösslings als Theaterschauspieler ausmalt, fragt sich ein dort eher zufällig anwesender Zeuge des Schauspiels mitunter, warum es eigentlich immer der „Gute Mensch von Sezuan“ sein muss, mit dem die 13-jährigen Schüler traktiert und letztendlich überfordert werden.
Und während Shen Te noch den berühmten Satz „Oh ihr Unglücklichen! Euerm Bruder wird Gewalt angetan, und ihr kneift die Augen zu! Der Getroffene schreit laut auf, und ihr schweigt?“ rezitiert, grübelt der geneigte Zuschauer vielleicht darüber nach, ob denn nicht das „Improtheater“, das ihm vor einigen Tagen auf einer Kleinkunstbühne so vortrefflich unterhalten hat, viel geeigneter für Schauspielanfänger sei. Viele Gründe scheinen dafür zu sprechen: Weder müssen die Spieler seitenlange Texte auswendig lernen, noch sich mit den schwierigen und mitunter angestaubten Gedanken der Theaterdichter auseinandersetzen. Auch aufwändige Kostüme und Kulissen werden obsolet. Der Aufwand reduziert sich auf ein Minimum. Zudem wird noch die Spontanität trainiert – eine Fähigkeit, die in unserer Gesellschaft bekanntlich immer wichtiger wird! Die ideale Schauspielform für Theaterneulinge also?
Aus meiner Sicht ist da viel Wahres dran und doch spiegelt es nur die halbe Wahrheit wieder. Mit der Methode der „Improvisation“ wird an Schauspielschulen und während der Theaterproben seit Jahrzehnten erfolgreich gearbeitet. Die Spieler sollen zu einem authentischen Ausdruck finden, d.h. erst einmal den Text vergessen und die Rolle erspielen!
Das ist nach wie vor genial und sicherlich notwendig. Der Theatererneuerer Keith Johnstone hat dies als Theaterform ausgebaut und als „Theatersport“ weltweit erfolgreich vermarktet.
Seitdem können wir vielerorts Theatersportaufführungen bewundern und dürfen – im Idealfall – einen gelungenen und unterhaltsamen Theaterabend erleben. Meist wird dabei viel gelacht – die nachdenklichen Spielszenen bleiben allerdings die Ausnahme. Schließlich will man den vom Alltag gestressten Zuschauer nicht mit zu anspruchsvollen Fragen und vielschichtigen Gedanken verwirren.
So betrachten Theatermacher die Improvisation auch eher als eine Methode, die bei der Erarbeitung einer Theaterinszenierung Anwendung findet. Sicherlich würden sie diese selbst kaum als „Improtheater“ bezeichnen, noch dies für erstrebenswert halten.
Gibt es also noch mehr als… Improvisationstheater? Ja, es gibt, antwortet da der leidenschaftliche Theatermensch. Modernes Theater versteht sich schließlich kaum noch als reines „Literaturtheater“. Der Text dominiert nicht mehr das Theatergeschehen, es ist zu einem Element von vielen geworden. Auch müssen es nicht mehr die vom Dichter in Verse gepressten Dialoge sein, die das Publikum in Ekstase versetzen. Moderne Theatermacher sehen sich eher als DJs, die aus Nachrichtentexten, O-Tönen von Zeitzeugen und anderen literarischen Erzeugnissen eine Textcollage erschaffen, die gleichberechtigt zu Videoeinspielungen, Tanzchoreographien und musikalischen Livedarbietungen steht. Bekannt geworden ist diese Spielweise u.a. durch die Theatergruppe Rimini Protokoll, die zu gesellschaftlich relevanten Themen sogenannte Alltagsspezialisten, d.h. Laiendarsteller auf die Bühne geholt haben.
Es bleibt also viel zu entdecken! Das europäische Theater blickt auf eine über zweitausendjährige Tradition zurück, die einstmals bei den alten Griechen begann. Wir verfügen also über ein nahezu unerschöpfliches Reservoir aus Ideen, Geschichten und Bildern. Zudem überflutet uns das Internetzeitalter tagtäglich mit neuen Eindrücken, die verarbeitet, durchlebt und getanzt werden wollen. Es gibt also viel zu erzählen und zu zeigen, fangen wir an!