Ich will im Folgenden mit einigen Umfrageergebnissen und Stastiken arbeiten. Da diese Zahlen gerade noch permanenter Änderung unterworfen sind, bitte ich zu entschuldigen, wenn sie dem Leser bereits nicht mehr korrekt erscheinen - das liegt in der Natur der Sache. An den Trends selbst ändert das aber nur wenig.
Die AfD lebt von einem Thema, und einem allein Die Wahl hat wieder einmal gezeigt, was ich schon seit längerem bemängele: wenn man der AfD nicht den Gefallen tut, ständig über Zuwanderung zu reden, dann hat sich auch ihr unaufhaltsamer Siegeszug. Dass sie gerade so stark im Bundestag sitzt, ist unter anderem Ausdruck eines breiten Medienversagens - zumindest jener Medien, die dies nun wortreich beklagen, denn sie haben mit ihrer Ein-Themen-Fixierung (wir erinnern uns) sicherlich ein oder zwei Prozentpünktchen zu verantworten. Gefragt, welche Themen für die Wahlentscheidung eine "große Rolle" spielen, antworten AfD-Anhänger zu 69% "Zuwanderung", gefolgt von "sozialer Sicherheit" - was man in dem Kontext getrost als Furcht vor Verteilungsverlusten durch mehr Einwanderer verstehen darf. Alle anderen Themen werden nur zu 20% oder weniger genannt. Das Thema hat gegenüber 2014 auch um fast 100% zugelegt, von 13%, die es als "größte Rolle für ihre Wahlentscheidung" nannten (mit Mehrfachnennung) auf 25%. Umso verheerender ist für die AfD, dass ihr auf dem Feld keine guten Noten ausgestellt werden. Nur 9% aller Wähler bescheinigen ihr "am ehesten gute Flüchtlings- oder Einwanderungspolitik", das sind nicht einmal alle ihrer Wähler. Spannend ist übrigens, dass die Strategie der FDP, sich als eine "AfD light" zu präsentieren und zu versuchen, die Leute anzuziehen, die früher CDU gewählt hätten weil man die AfD als unfein begreift, teilweise aufgeht. 34% aller FDP-Wähler betrachteten Zuwanderung als ein für ihre Wahlentscheidung wichtiges Thema. Alle anderen Parteien lagen hier zwischen 16% (CDU) und 11% (LINKE). Man muss konstatieren, dass besonders die bürgerliche Presse in einer einzigen Blase gelebt hat. In den Frankfurter Bürotürmen mag Zuwanderung als das zentrale Thema erschienen sein, das die Republik umtreibt - aber im Gegenzug vergaß man beim Fabulieren über den "Kinderkreuzzug" Thunbergs einmal zu schauen, was die Menschen im Land wirklich bewegt. (Und ja, das ist eine bewusste Parallele zu den ganzen Leitartiklern der Trump- und AfD-Ära.) Die AfD offenbart in all diesen Umfragen auch ein hartes ceiling. Nicht nur trauen ihr die Wähler keine Problemlösungskompetenz zu; auch die Arbeit Meuthens als Vorsitzendem bewerten nur 9% der Wähler als gut - also weniger, als die AfD selbst gewählt haben. All diese Zahlen deuten daraufhin, dass das Ergebnis von 2017 eher einen Höchststand darstellt als ein Sprungbrett zu größeren Weihen.
Umwelt war das Megathema Überraschend sind es die FDP-Wähler, die wenig Interesse am Klima haben: 19% sehen als ein "wichtiges" Thema. Selbst die Wähler der klimawandelleugnenden AfD nannten das Thema zu 20% als eines, das für "wichtig für die Wahlentscheiung" war (ob sie wegen oder trotz dieser Bedeutung AfD wählten, bleibt unklar). Bei den Wählern der Grünen waren es, wenig überraschend, 88%. Die Wähler der anderen drei Parteien sind alle eng beeinander bei knapp unter 50%. 48% nannten "Klima und Umwelt" als das Thema mit der "größten Rolle" (wobei Mehrfachnennungen zugelassen gewesen zu sein scheinen, was die Frage etwas merkwürdig macht), eine Steigerung von über 100% gegenüber 2014, als die gleiche Antwort von nur 20% gewählt wurde. Greta Thunberg und die #FridaysForFuture scheinen einen deutlich größeren Einfluss gehabt zu haben, als ich es in meiner zynischen Grundhaltung für möglich erachtet hätte. Das Thema deklassierte damit den sonstigen Spitzenreiter "soziale Sicherheit" (-5% auf 43%) und "Friedenssicherung" (-7% auf 35%).
Der Graben zwischen den Parteien verläuft entlang der Demographie Eines der auffälligsten Merkmale der Wahl dürfte sein, dass eine geradezu tektonische Verschiebung der Wähler entlang der Generationsgrenzen stattgefunden hat. Die CDU hat mehr als die Hälfte ihrer Wähler im Segment der 18-24jährigen verloren, ebenso die SPD. Die Grünen haben dagegen um deutlich mehr als das doppelte zugelegt. Nur 13% in dieser Altersgruppe wählen CDU, 11% die SPD. Erst ab der Altersschwelle von 60 Jahren (!) dreht sich dieser Trend um. Die einzige andere Partei, die bei den Jungwählern zulegen konnte, ist die FDP. Auch hierin dürfte ein Erfolg Lindners liegen, der zuletzt mit hipperem Auftreten und dem Betonen der Bedeutung von Digitalisierung, Innovation und Bildung auf Zukunftsthemen setzte. Die rückwärtsgewandten Parteien von CDU, SPD, LINKE und AfD verloren dagegen in diesem Alterssegment alle. Bei den Erstwählern ist der Trend am dramatischsten, aber er zieht sich bis fast ins Rentenalter. Wenn diese Entwicklung sich fortschreibt - was bei weitem nicht garantiert ist - haben die ehemaligen Volksparteien ein noch größeres Problem, als dies aktuell der Fall zu sein scheint.
Die Grünen sind die Gewinner der Wahl (und des wahrscheinlichen Niedergangs der alten Mitte) Wer herausfinden möchte, warum die Grünen so große Profiteure der Wahl waren, muss sich nur ansehen, welche Themen die Wähler im Schnitt als "wichtig für ihre Wahlentscheidung" nannten (s.o.). Dieses Bild ist jedoch nur halb komplett. Denn nicht nur betrachten atemberaubende 48% der Wähler Klimaschutz als entscheidendes Thema; auf die Frage, wer "am ehesten eine gute Klima- und Umweltpolitik" betreibe, liegen die Grünen mit 56% vorn (wohlgemerkt: aller Befragten!), gefolgt von der CDU/CSU mit 14% (!) und der SPD mit 5% (!!). Alle anderen Parteien tauchen effektiv überhaupt nicht auf. Ob zurecht oder zu Unrecht, die Grünen werden als DIE Partei für Umweltfragen thematisiert, und, das ist entscheidend, werden selbst von vielen, die sie nicht wählen, als kompetent auf dem Gebiet geschätzt - ein merklicher Unterschied zur AfD, der konstruktiv überhaupt nichts zugetraut wird. Auf der anderen Seite sieht es um die Kompetenzen der Grünen eher mau aus: nur 12% trauen ihnen gute Flüchtlings- und Einwanderungspolitik zu (hier führt die Union mit 28% deutlich, aber insgesamt wird das Thema sehr negativ gesehen), und ebenso 12% sehen die Weiterentwicklung der Union in guten Händen. Die große Gefahr für die Grünen ist daher dieselbe wie bei der AfD: beherrscht ihr Leib- und Magenthema nicht die Schlagzeilen, so kommen sie in stressiges Fahrwasser. Schützenhilfe bekommen die Grünen ironischerweise von den hyperventilierenden bürgerlichen Leitmedien wie der FAZ oder der Springerpresse ("grün ist das neue rot"), die alles dafür tun, dass die Unter-60-jährigen die Grünen als "ihre" Partei begreifen. Denn das Gegenstück der oben genannten Gefahr ist für die Grünen tatsächlich die Chance, den Mantel der Anti-AfD-Partei und der Partei der Zukunft zu ergreifen, den die SPD geradezu kriminell vernachlässigt hat. Ob sie diese Chance in einer linksgerichteten Koalition oder in einer bürgerlichen Koalition nutzen will, ist die entscheidende Richtungsfrage für 2021. Für beides gibt es gute Argumente und Proponenten. Fakt ist, dass "Kanzlerkandidat Robert Habeck" kein dummer Scherz mehr ist. Aktuell gibt es wenig Grund anzunehmen, dass man Olaf Scholz die Bühne für das Duell gegen Krampp-Karrenbauer geben sollte. Hält sich der aktuelle Stand, könnten die Grünen die Führerschaft im linken Lager beanspruchen, wenn sie sie denn wollen.
Die SPD ist in einer Todesspirale Noch 2014 sagten 52% der Befragten, "die SPD setzt in der Bundesregierung erfolgreich sozialdemokratische Positionen durch". 2019 beträgt dieser Wert noch 34%. Noch dramatischer sieht es bei "Kompetenzen" der SPD zu, die Wähler ihr zutrauen. Nur 29% nennen "Soziale Gerechtigkeit" als Kernkompetenz. Das ist etwas, was vor kurzem noch deutlich mehr Wähler der Partei zugestanden hätten, selbst wenn sie sie nicht wählten - analog zum Klimaschutz bei den Grünen. Und dann ist da das Profil. 62% aller Wähler stimmen der Aussage zu: "Man weiß nicht, wofür die Partei eigentlich steht." Nur noch 25% - gegenüber 50% im Jahr 1999 - erklären, die SPD würde "Deutschlands Interessen" vertreten. Auch das Personal ist problematisch. Nur 27% geben Zufriedenheit mit der Arbeit von Andrea Nahles an (was auch immer das heißt; die gleichen 27% hätten wohl Probleme, selbige Arbeit zu benennen). 46% schätzen Scholz; nur der hat da den üblichen Kassenwart-Bonus. Wir Deutschen lieben die kaltschnäuzigen Finanzminister, aber nicht als Kanzlerkandidaten oder Parteichefs. Das hat auch Peer Steinbrück bemerkt. Wie die SPD da aktuell noch herauskommen soll, ist völlig unklar. Sie hat nun schon mehrere Gelegenheiten zur Profilierung - irgendeiner Profilierung - ausgeschlagen. Ob 2013 mit Steinbrück als Bekenntnis zur Agenda2010 oder 2017 mit Martin Schulz als Bekentnnis zur EU, stets entschied man sich für den mäandernden Mittelweg. Und der bringt bekanntlich in Zeiten großer Not den Tod. Meinem Gefühl nach ist das Fenster dafür aber zu. Die desaströsen Zahlen und der Großtrend deuten klar in diese Richtung.
Die CDU hat sich mächtig verkalkuliert Ähnlich wie bei SPD sehen die Wähler einen deutlichen Profilverlust bei der Partei. 47% stimmen der Aussage zu: "Man weiß nicht, wofür die Partei eigentlich steht." Das ist, wie die Sozialdemokratie zeigt, problematisch. AKK kann nur 42% Zustimmung zu ihrer politischen Arbeit auf sich verbuchen. Demgegenüber bleibt Merkel ungebrochen populär; 60% zeigen sich zufrieden. Das ganze Ausmaß der Misere von CDU und SPD zeigt sich bei der Zufriedenheit mit der Bundesregierung als Ganzem: hielten sich Zustimmung und Ablehnung zwischen 2013 und 2017 die Waage, fällt diese seit 2017 stetig. Fast 20% beträgt die klaffende Lücke mittlerweile. Aber die "fundamentals" der CDU bleiben, im merklichen Gegensatz zur SPD, noch stark. Je 47% aller Wähler sehen sie bei der "Vertretung deutscher Interessen in der EU" (hier zahlte sich das Griechen-Bashing aus) und bei "Wirtschaft" als kompetent. 37% trauen ihr die Weiterentwicklung der EU zu. Zudem hat die CDU bei der Frage, welche Partei "die deutschen Interessen" am besten vertrete, seit 1999 zugelegt und sich sogar gegenüber 2017 minimal verbessert. Das sind ordentliche Zahlen, und wenn die CDU aufhört, mit beiden Beinen ins Fettnäpfchen zu springen, kann sie diese für ein Comeback nutzen.
Die Deutschen lieben die EU, zumindest in der Theorie Selbst in der AfD sagen "nur" 56% der Wähler, Deutschland habe "durch die EU mehr Nachteile als Vorteile". In den anderen Parteien beträgt dieser Wert nur bei der LINKEn überhaupt zwei Dezimalstellen (13%), alle anderen sind einstellig. Das spricht, trotz aller dramatisierenden Griechenland-Rhetorik, doch vor ein überraschend pragmatisches Grundverständnis, denn diese Aussage kann man wahrlich nur in Zweifel ziehen, wenn man vor der Exportorientierung des Landes willentlich die Augen verschließt. Auch wenn man die Frage auf die persönliche Ebene schiebt, ändert sich das Bild nicht gravierend. Kann man bei "Deutschland" noch von einem Verständnis für das Große Ganze ausgehen (wenn man denn will), so ist die andere Frage, ob man "mehr persönliche Vor- als Nachteile" durch die EU habe, von 68% mit ja und nur von 17% mit nein beantwortet worden (der Rest meint, es halte sich die Waage). Damit ist Deutschland EU-weit eher die Ausnahme, so viel dürfte sicher sein. Dazu passt auch, dass die Deutschen zu 81% der Meinung sind, die EU sollte "stärker gemeinsam handeln" (2014: 70%). Natürlich sind diese Umfragen, wie wir jüngst festgestellt haben, sehr mit Vorsicht zu genießen. Sobald es nämlich konkret wird (Stichwort Europäischer Finanzminister oder Auslandseinsätze) sinken diese Zahlen rapide ab. Aber: als grundsätzliches Stimmungsbild sind sie nicht zu verachten. Anders als in vielen anderen EU-Ländern genießt das Konzept der EU hierzulande ungebrochene Popularität, was es deutschen Europapolitikern auch weiterhin ermöglicht, mit ordentlichem Vertrauensvorschuss ohne allzuviel innenpolitischen Gegenwind Politik in Brüssel zu machen.
Fazit Diese Zahlen sind allesamt wegen der Weichheit der Kategorien nur eingeschränkt belastbar. Sie sind ein grobes Stimmungsbild und sollten nicht überinterpretiert werden. Auf der anderen Seite sollte aber deutlich sein, dass sich etwas im Fluss befindet. Die Situation ändert sich deutlich.