Immer informiert

Von Wasser-Prawda @WasserPrawda

Max war bis zu dem denkwürdigen Tag im Juli 2012 immer ein überzeugtes Mitglied der Informationsgesellschaft gewesen. Internet, E-Mail und SMS, soziale Netzwerke und Erreichbarkeit immer und überall fand er selbstverständlich.

Am Mittag des 21. Juli erhielt Max eine E-Mail auf seinem Tablet-Computer. Das E-Mail-Programm informierte ihn mit einer Sprach-Ausgabe: „Du hast eine neue Mail!“ Zusätzlich blinkte ein Fenster auf dem Display in orange, das ihm dasselbe mitteilen wollte.

Einige Sekunden später gab sein neues Smartphone mit mehreren Prozessorkernen und gigantischem Touchscreen einen Hahnenschrei von sich. Max fand es cool, sich über die App noch einmal über neue E-Mails informieren zu lassen.

Allerdings ignorierte der junge Mann ausnahmsweise die vielen Informationskanäle, da er gerade in einem Online-Forum eine polemisch geführte Auseinandersetzung verfolgte, wer denn nun die besten Smartphones auf der Welt baue. Es war ihm zur Gewohnheit geworden, E-Mails immer möglichst bald Beachtung zu schenken.

Eine halbe Stunde später hatte er die neue E-Mail vergessen. Sein Magen knurrte. Er hatte Appetit auf eine Tiefkühl-Pizza. Als er die Backofentür gerade heruntergeklappt hatte, ertönte eine strenge weibliche Stimme aus dem Inneren des Backofens: „Beachte bitte Deine neue E-Mail!“

Max fiel die hart gefrorene Pizza aus der Hand. Was war das denn für ein Gimmick? „Das hab’ ich doch gar nicht downgeloaded, wie kann das sein?“, murmelte er vor sich hin. Außerdem war ihm gar nicht bekannt, dass der Backofen so eine technische Möglichkeit besaß.
Hatten seine neuen Medis unbekannte Nebenwirkungen wie Halluzinationen? Max sammelte seine Pizza wieder ein und steckte sie dann trotzdem in den Backofen. Vielleicht hatte er nur mal wieder zu wenig geschlafen.

Als die Pizza vor sich hin brutzelte, warf er einen Blick auf sein Tablet. Die WLAN-Verbindung war allerdings gerade unterbrochen. In letzter Zeit kam das häufiger vor. Dann musste die E-Mail halt noch bis nach dem Essen warten.

Er hatte die Salami-Pepperoni-Mafiatorte zu einem Drittel gegessen, da ließ ihn eine Werbeeinblendung im Radio in seiner Single-Kochnische aufhorchen. „Hier kommt ein wichtiger Hinweis: Max lies endlich deine E-Mail, es ist dringend! Mit dem Radio erreichen Sie die größte Zielgruppe. Mit dem Radio erreichen Sie mehr, denken Sie daran!“
Max begann zu husten und zu würgen. Er rannte zur Toilette und erbrach sich in das verschmutzte und stinkende Klosett, das er schon länger einmal hatte reinigen wollen.

Danach hatte er keinen Appetit mehr. Da seine Hände zitterten, nahm er noch eine von seinen Beruhigungstabletten. Man sollte zwar dann auf Alkohol verzichten, aber das scherte ihn nicht. Max goss sich ein Wasserglas mit Wodka voll. Seit er seine Stelle verloren hatte, trank er öfter auch schon einmal tagsüber.

Er kippte den Schnaps runter. Danach hielt Max sich den Bauch, weil das Zeug tierisch brannte. Vorsichtshalber hatte er hatte das Radio ausgeschaltet und traute sich schon gar nicht mehr, seine E-Mails anzuschauen. Er malte sich in seinem angesäuselten Gemütszustand die schlimmsten Dinge aus, die seiner in der elektronischen Nachricht harrten.

Der Fernseher lief bei Max seit Wochen ohne Pause, aber oft mit ausgeschaltetem Ton. Damit bekämpfte er seine Einsamkeit. Als er auf dem Sofa liegend die Videotext-Taste der Fernbedienung gedrückt hatte, begann der gesamte Bildschirm zu blinken:
MAX WIRD DRINGEND AUFGEFORDERT, SEINE MAILS ZU CHECKEN!

Sofort schaltete er ab. Das konnte doch nicht wahr sein ... Er nahm sein Tablet zur Hand. „Es konnte keine Internet-Verbindung aufgebaut werden, ätsch!“ stand dort. In dem Moment begann wieder das Kikeriki-Geschrei seines Smartphones. Er nahm das Gerät und sah die folgende Mitteilung: „Lies deine Mails, du Pfeife, aber dalli!“

Max schaltete WLAN aus und UMTS ein. Beim Zugriff auf seinen E-Mail-Account las er: „Für dich gesperrt, und watt nu?“ Max schwitzte stark. Er schwankte zur Wohnungstür, verriegelte sie und spähte durch den Spion. Vor der Tür stand niemand, puh.

Sein Festnetz-Telefon schrillte. Max zuckte zusammen. „Ja?“
„Staatliche Überwachungsbehörde des Internet-Verkehrs. Uns ist mitgeteilt worden, dass Sie eine E-Mail seit eineinhalb Stunden nicht beachtet haben. Was sagen Sie dazu?“
„Mit wem spreche ich denn wohl?“
„Unsere Identität bleibt bewusst verborgen, wir operieren streng geheim.“ sagte die Mitarbeiterin des Amtes. „Was sagen Sie also dazu?“
„Das geht Sie doch wohl einen feuchten, fetten Haufen Schei ...“, brüllte Max.
„Laut dem neuen Internet-Überwachungs-Gesetz IÜG sind wir durchaus befugt, solche Fragen zu stellen. Wenn Sie nicht binnen einer Stunde unserer Behörde Auskunft erteilen, wird ...“

Max hatte aufgelegt. Er kippte ein weiteres Wasserglas mit Wodka hinunter. Eventuell musste er gleich noch mal kotzen, aber das war ihm jetzt auch gleichgültig. Er war sehr deprimiert. Von aller Internet-Außenwelt abgeschnitten und zusätzlich von obskuren Mächten unter Druck gesetzt, fühlte er sich am Ende seiner Kräfte. Nach einem dritten Wodka fiel er in einen leichten Schlaf.

Geweckt wurde er wurde von einer lauten Stimme vor der Wohnungstür. „Öffnen Sie, Max. Wir wissen, dass Sie da sind. Hier spricht die Internet-Polizei!“
Max verhielt sich still. Er wusste nicht, was das alles bedeutete.
„Öffnen Sie!“
Als zwanzig Sekunden danach die Spezialeinheit die Wohnung stürmte, stand Max schwankend bereits schwankend auf seinem Balkon. Mehrere Beamte mit schusssicheren Westen, Helmen und Maschinenpistolen kamen auf Max zu gerannt. Er geriet in Panik und stolperte über die Brüstung. Er fiel neun Stockwerke in die Tiefe und war sofort tot.
Auf seinem Tablet öffnete sich das Mail-Programm wie von Geisterhand. „Pills you need today!“ stand als Überschrift in der aktuellen E-Mail.