Aber ich war zuerst da, mokierte sie. Sie kam nochmal an die Aufnahme zurück und beschwerte sich, weil andere früher als sie in den Behandlungsbereich gerufen wurden. Andere, die viel später kamen. Die Erklärung, dass diese Leute auf andere Fachärzte warteten, nicht wie sie, auf den Internisten, kümmerte sie herzlich gar nicht. Der Internist sei nämlich gerade sehr beschäftigt, eben seien zwei Rettungswagen angekommen mit ziemlich dringlichen Notfällen hinten drin. »Bin ich etwa kein Notfall?«, erwiderte sie. Bestimmt, antwortete ihr der haarige Typ hinterm Tresen, aber die eintreffenden Notfälle seien jetzt brisanter und schließlich gäbe es auch nur begrenzte Mittel an Personal. Sie zog wieder ab, schimpfte über die Zustände und würde in etwa zwanzig Minuten erneut auf der Matte stehen, als ob das den Ablauf auch nur im Ansatz beschleunigen könnte.
Der Wartebereich war überfüllt, alle möglichen Leute hockten hier, um sich entweder Schmerzen, Beschwerden oder Zipperlein begutachten zu lassen. Manche kamen auch mit Grippe, gehörten eigentlich zu einem Hausarzt, aber verstopften den Betrieb der Notaufnahme und beklagten sehr, dass sie so lange warten mussten und der Alte mit dem Blasenkatheder früher hereingeholt wurde, obgleich er viel später eintraf. Man sagte ihm, der brauche einen Urologen, er jedoch einen Internisten. Alle belauerten sich, man protzte still mit seinem Leid; ein Wettkampf, wer am kränksten ist, entbrannte unmerklich. Wirklich Kranke und kaum Lädierte maßen sich. Und wer konnte, der ließ seine Angehörigen ausschwärmen, um Druck zu machen, die Aufnahme anzuspornen, jetzt endlich in die Gänge zu kommen, den Arzt vom tatsächlichen Notfall, der älteren Dame mit dem Schlaganfall, wegzuholen, um sich endlich des Kopfschmerzes des leidenden Ehemanns, Kindes oder Elternteiles anzunehmen.
Schon bei der Anmeldung wollten sie wissen, ob sie lange zu warten hätten. Ja, antwortete man, das sei eine Notaufnahme, außerdem sei gerade Stoßzeit, wenn Sie hinter sich blicken, sehen Sie ja, wie die Ambulanzen hier hereindrücken. Manche nickten. Andere sagten nichts. Verständnis kam in einem von zwölf Fällen auf. Grundsätzlich war es den Leuten aber egal, sie sahen durch die Glasscheibe teilweise zu, wie ein Rettungsteam einen offenen Schädel hereinkarrte, bestanden aber darauf, in der Reihe zu bleiben, in der Hierarchie des chronologischen Aufrufens nicht nach hinten gesetzt zu werden. Ein Hierarchie, die es gar nicht gab, die aber in den Köpfen der sich gegenseitig beäugenden Patienten wie eine auf Naturgesetze basierte Weltordnung vorherrschte. Wenn dann ein verstauchter Knöchel nicht das medizinische Personal in Ehrfurcht verfallen ließ und nicht spornstreichs Himmel und Hölle und das dazwischen in Bewegung gesetzt wurde, um die Beschwerden postwendend zu lindern, weil man eben gerade mit anderen, teils brisanteren Notfällen zu tun hatte, variierte die Spannbreite der Reaktionen zwischen Enttäuschung und Pampigkeit. Manchmal war es eine Mischung aus beidem.
Der Wartebereich war keine Zone, in der kranke Menschen sich darauf verständigten krank zu sein und den Wettbewerb bis auf weiteres einzustellen, man einigte sich dort nicht darauf, jetzt in einer Notsituation zu stecken, aus der man das Beste machen musste. Es war die Zone von Konkurrenten und Rivalen. Arbeitsunfall gegen Bruch, Bauchschmerzen wider die bösen Blicke von Leuten, die ihr Areal zu verteidigen schienen. Jeder war sich dort selbst der Nächste. Soll doch ein anderer leiden, daran kaputtgehen, solange ich nur schnell und effizient behandelt werde. Dass ich früh genug zurück bin, um noch gerade rechtzeitig zur Soap zurück zu sein, ist allemal wichtiger, als der Vorzug einer Person, die richtige gesundheitliche Probleme an der Grenze zum dauerhaften Schaden hat.
Wenn es allen schlechter geht, so ein häufiger Einwand, dann würde endlich etwas politisch geschehen. Denn Massenelend bedeute ja auch Massenmobilisierung. Falls eine große Gruppe Not litte, dann geschähe ein allgemeiner Ruck. So hört man das nicht selten unter Trinkbrüdern. Es ist aber nur ein resignativer Fatalismus, der Entbehrung zu einem Antrieb besserer Verhältnisse verklärt. Ein Blick in jene Notaufnahme, in jede Notaufnahme zeigt vermutlich ganz gut, dass jeder für sich und nur für sich selbst leidet. So gibt es kein Einfühlen, keine Solidarisierung. Leid und Schmerz, Armut und Not führen zu Vereinzelung und zum Fortbestand des Elends. Überall dort wo es den Menschen schlecht geht, reift nicht zwangsläufig etwas Gutes heran. Manchmal ist das Schlechtergehen eben nur exakt das und nicht mehr. Bei Bauchschmerzen denkt man in erster Linie daran, wie die eigenen Bauchschmerzen vergehen können und nicht, wie der Bauchschmerz der Menschheit eingestellt werden könnte. Entbehrung ist kein Antrieb; Entbehrung ist der begünstigende Faktor des Egoismus.
Wenn man wie Bukowski aus dem Rinnstein säuft, dann will man sich zunächst aus der Gosse befördern. Und so sind seine Geschichten immer auch Geschichten von ganz unten, in denen es an Solidarität fehlt und jeder versucht, sein Glück alleine am Schopf zu packen. Und wenn die Verstorbenen in Fernsehserien nicht erstarren wollen, wenn die Toten walken, um sich an den Lebenden zu weiden, dann will man selbst überleben, wird zur exklusiven Gruppe und bestimmt kein besserer und hilfsbereiter Menschenschlag. Sitzt man in der Notaufnahme, so will man eilig kuriert werden. Jeder für sich. Not macht sprichwörtlich erfinderisch - aber auch einsam.
Der Wartebereich war überfüllt, alle möglichen Leute hockten hier, um sich entweder Schmerzen, Beschwerden oder Zipperlein begutachten zu lassen. Manche kamen auch mit Grippe, gehörten eigentlich zu einem Hausarzt, aber verstopften den Betrieb der Notaufnahme und beklagten sehr, dass sie so lange warten mussten und der Alte mit dem Blasenkatheder früher hereingeholt wurde, obgleich er viel später eintraf. Man sagte ihm, der brauche einen Urologen, er jedoch einen Internisten. Alle belauerten sich, man protzte still mit seinem Leid; ein Wettkampf, wer am kränksten ist, entbrannte unmerklich. Wirklich Kranke und kaum Lädierte maßen sich. Und wer konnte, der ließ seine Angehörigen ausschwärmen, um Druck zu machen, die Aufnahme anzuspornen, jetzt endlich in die Gänge zu kommen, den Arzt vom tatsächlichen Notfall, der älteren Dame mit dem Schlaganfall, wegzuholen, um sich endlich des Kopfschmerzes des leidenden Ehemanns, Kindes oder Elternteiles anzunehmen.
Schon bei der Anmeldung wollten sie wissen, ob sie lange zu warten hätten. Ja, antwortete man, das sei eine Notaufnahme, außerdem sei gerade Stoßzeit, wenn Sie hinter sich blicken, sehen Sie ja, wie die Ambulanzen hier hereindrücken. Manche nickten. Andere sagten nichts. Verständnis kam in einem von zwölf Fällen auf. Grundsätzlich war es den Leuten aber egal, sie sahen durch die Glasscheibe teilweise zu, wie ein Rettungsteam einen offenen Schädel hereinkarrte, bestanden aber darauf, in der Reihe zu bleiben, in der Hierarchie des chronologischen Aufrufens nicht nach hinten gesetzt zu werden. Ein Hierarchie, die es gar nicht gab, die aber in den Köpfen der sich gegenseitig beäugenden Patienten wie eine auf Naturgesetze basierte Weltordnung vorherrschte. Wenn dann ein verstauchter Knöchel nicht das medizinische Personal in Ehrfurcht verfallen ließ und nicht spornstreichs Himmel und Hölle und das dazwischen in Bewegung gesetzt wurde, um die Beschwerden postwendend zu lindern, weil man eben gerade mit anderen, teils brisanteren Notfällen zu tun hatte, variierte die Spannbreite der Reaktionen zwischen Enttäuschung und Pampigkeit. Manchmal war es eine Mischung aus beidem.
Der Wartebereich war keine Zone, in der kranke Menschen sich darauf verständigten krank zu sein und den Wettbewerb bis auf weiteres einzustellen, man einigte sich dort nicht darauf, jetzt in einer Notsituation zu stecken, aus der man das Beste machen musste. Es war die Zone von Konkurrenten und Rivalen. Arbeitsunfall gegen Bruch, Bauchschmerzen wider die bösen Blicke von Leuten, die ihr Areal zu verteidigen schienen. Jeder war sich dort selbst der Nächste. Soll doch ein anderer leiden, daran kaputtgehen, solange ich nur schnell und effizient behandelt werde. Dass ich früh genug zurück bin, um noch gerade rechtzeitig zur Soap zurück zu sein, ist allemal wichtiger, als der Vorzug einer Person, die richtige gesundheitliche Probleme an der Grenze zum dauerhaften Schaden hat.
Wenn es allen schlechter geht, so ein häufiger Einwand, dann würde endlich etwas politisch geschehen. Denn Massenelend bedeute ja auch Massenmobilisierung. Falls eine große Gruppe Not litte, dann geschähe ein allgemeiner Ruck. So hört man das nicht selten unter Trinkbrüdern. Es ist aber nur ein resignativer Fatalismus, der Entbehrung zu einem Antrieb besserer Verhältnisse verklärt. Ein Blick in jene Notaufnahme, in jede Notaufnahme zeigt vermutlich ganz gut, dass jeder für sich und nur für sich selbst leidet. So gibt es kein Einfühlen, keine Solidarisierung. Leid und Schmerz, Armut und Not führen zu Vereinzelung und zum Fortbestand des Elends. Überall dort wo es den Menschen schlecht geht, reift nicht zwangsläufig etwas Gutes heran. Manchmal ist das Schlechtergehen eben nur exakt das und nicht mehr. Bei Bauchschmerzen denkt man in erster Linie daran, wie die eigenen Bauchschmerzen vergehen können und nicht, wie der Bauchschmerz der Menschheit eingestellt werden könnte. Entbehrung ist kein Antrieb; Entbehrung ist der begünstigende Faktor des Egoismus.
Wenn man wie Bukowski aus dem Rinnstein säuft, dann will man sich zunächst aus der Gosse befördern. Und so sind seine Geschichten immer auch Geschichten von ganz unten, in denen es an Solidarität fehlt und jeder versucht, sein Glück alleine am Schopf zu packen. Und wenn die Verstorbenen in Fernsehserien nicht erstarren wollen, wenn die Toten walken, um sich an den Lebenden zu weiden, dann will man selbst überleben, wird zur exklusiven Gruppe und bestimmt kein besserer und hilfsbereiter Menschenschlag. Sitzt man in der Notaufnahme, so will man eilig kuriert werden. Jeder für sich. Not macht sprichwörtlich erfinderisch - aber auch einsam.