Im Totenbett des Journalismus

Im Totenbett des JournalismusWie machen die das nur immer. Da sinkt der Alkoholverbrauch der Deutschen seit Jahrzehnten, aber wenigstens zweimal im Jahr warnen hauptamtliche Drogenkämpfer vor einem unentwegt steigenden Alkoholkonsum der Deutschen. Auch die Zahl der rechtsextremen Straftaten geht seit Jahren zurück. Die renommierte Illustrierte "Stern" aber vermag daraus die Überschrift zu machen "Rechte Gewalt nimmt vor allem im Osten zu", die der "Focus" gleichlautend ebenfalls verwendet. Oder der "Anstieg" der Straftaten im Internet, der seit Jahren regelmäßig hinter dem Anstieg der Teilnehmerzahlen am Internet zurückbleibt. Aber gleichwohl stets als Anstieg vermeldet wird.
Doch wo es um Botschaften geht, das wussten schon Jesus und Mohammed, können Fakten nur stören. Deshalb wenden Medienarbeiter bei der Verfertigung unzutreffender, aber aufrüttelnder Meldungen immer dieselben bewährten Kunstgriffe an. Wir wollen sie hier ein wenig beleuchten, um zu zeigen, wie das Prinzip funktioniert, das Geografen aus der Welt der Weltkarten bekannt ist. Die überzeichnen generell die Größe der Kontinente, während sie die gewaltigen Flächen der Ozeane stets kleiner darstellen. Das tun sie schon so lange, dass die meisten Menschen heute glauben, die Erde sehe so aus: Ein Katzensprung von Kalifornien nach Japan. Russland hinterm Ural fast die Mongolei.
Das aber ist eine verzerrte Wahrnehmung, die allein der Praktikabilität geschuldet ist. Ein schönes Beispiel, geradezu klassisch in Anlage und Ausführung, wie das medial funktioniert, ist eine Meldung der "Welt" zur "Entwicklung rechtsextremistischer Gewalttaten", die, so erfuhren es die Leser des Qualitätsblattes, "in Deutschland signifikant auseinanderdriften". Weiter hieß es: "Trotz eines Abwärtstrends im ganzen Land steigen sie im Osten stark, von insgesamt 762 registrierten Gewalttaten entfallen allein 306 auf die fünf ostdeutschen Bundesländer". In dieser Region ereigneten sich damit 40 Prozent dieser Delikte, obwohl der Anteil an der Gesamtbevölkerung lediglich 15 Prozent beträgt. Abschließend folgt noch der Satz: "Den Negativrekord im Länderranking hält inzwischen Sachsen-Anhalt. Dort wurden im vorigen Jahr je 100.000 Einwohner 2,84 solcher Gewalttaten verübt. 2009 war noch Brandenburg Spitzenreiter, das jetzt auf dem zweiten Platz steht."
Das klingt alles sehr sachlich, gleichzeitig aber beunruhigend, allerdings auch nur bis zu einer näheren Betrachtung. Denn die ergibt Verblüffendes: Das "signifikante Auseinanderdriften" findet in Wirklichkeit nicht statt, es ist eine reine Erfindung, ein Popanz, der mit Fantasieklamotten angezogen von Weitem wie lebendig wirkt.
Schauen wir uns das genauer an. "Trotz eines Abwärtstrends im ganzen Land steigen sie im Osten stark, von insgesamt 762 registrierten Gewalttaten entfallen allein 306 auf die fünf ostdeutschen Bundesländer", verrät uns keine vergleichbaren Gesamtzahl, wir müssen also rechnen. 306 Taten im Osten bedeuten offenbar 456 Taten im Westen - im Vergleich zu den 601 Taten, die im Vorjahr in den alten Bundesländern geschahen, in der Tat ein signifikanter Rückgang, der statistisch relevant ist. Doch sind es die 16 Taten mehr, die im Osten geschahen? Berlin etwa liegt zweifellos im Osten, wird aber rätselhafterweise zum Westen gezählt - wäre es anders, würde der Rückgang der rechten Straftaten in der Hauptstadt (von 56 auf 22) nämlich sofort dazu führen, dass im gesamten Zählosten kein statistischer Zuwachs an rechter Gewalt mehr zu verzeichnen wäre.
Das gäbe jedoch nicht die Schlagzeilen, um die es geht. "Neonazis vor allem im Osten Deutschlands aktiv" (Morgenpost), "Neonazis werden im Osten immer brutaler" (Welt) und "Rechtsextreme Gewalt nimmt im Osten zu" (ZDF) - alle funktionieren nach dem Prinzip, dass eine Lüge je schwerer nachzuweisen ist, je unschärfer man sie formuliert. Dazu gehört es, bei Vergleichen keine zueinander gehörigen Vergleichszahlen zu nennen: Die "Welt", bei der in diesem Falle aller Unsinn seinen Ursprung hat, schafft das, indem sie statt absoluter Zahlen auf Bevölkerungszahlen heruntergerechnete präsentiert. Um von dort aus schließlich bei einem absolut nebensächlichen Aspekt zu landen, der wiederum ohne jede Vergleichsmöglichkeit präsentiert wird: "Den Negativrekord im Länderranking hält inzwischen Sachsen-Anhalt", heißt es dort. Natürlich erfährt niemand, ob das an einer Zunahme der Taten oder, was im Fall des langsam ausblutenden Bundeslandes nicht undenkbar ist, am Rückgang der Bevölkerungszahlen liegt. Beides könnte zum selben Effekt führen: Die Zahl der Taten pro Kopf der Einwohner steigt.
Den neuen "Rekord", von dem getreulich alle paar hundert Presseorgane der Republik schreiben, erreichte das Bundesland denn auch ohne große Anstrengung. 2008 geschahen in Sachsen-Anhalt noch 100 rechte Gewalttaten, im Jahr danach waren es 60, nun reichen schon 67 zur Tabellenspitze.
Angaben, die der Zeitungsleser nirgendwo finden wird. Wie bei der Armut, die hierzulande seit Jahren immer bedrohlicher zu werden scheint, weil der Armutsbegriff beständig ausgeweitet wird, und bei der Gefahr durch Alkohol, dessen Konsum angeblich steigt, obwohl alle statistischen Zahlen sagen, dass der Alkoholverbrauch seit Mitte der 80er Jahre unentwegt sinkt, geht es nicht um Mitteilungen über die wirkliche Welt, sondern um Zuschreibungen, die der Erwartungshaltung der Schreibenden entsprechen. Jeder Blick in ein Archiv, jeder Vergleich von Zahlen kann und jede Prüfung des Zustandekommens von vermeintlichen Trends kann nur zerstören, was man sich als Schlagzeile wünscht.
Am Totenbett des Journalismus zählen Projektionen, nicht Realitäten, wie für solcherart imaginierte Tatsachen bekannte "Zeit" beispielhaft vorexerziert. "Innenminister warnt vor Eskalation extremistischer Gewalt", nennt das Wochenblatt einen Text, der eigentlich vom Sinken der Zahl rechtsextremistischer Straftaten handelt. Macht ja nicht, merkt ja keiner.
"Der Verfassungsschutz hat 2010 weniger politisch motivierte Straf- und Gewalttaten gezählt", schreibt die Zeitung, und weiter, als sei das eine durchaus logische Folge: "Sorge bereitet den Sicherheitsbehörden das Anwachsen der Neonazi-Gruppen". Ausgeführt wird dann eher en passant, dass "sowohl die Zahl der Personen, die den jeweiligen Extremistenspektren zugerechnet werden, als auch die von ihnen verübten Straftaten" gesunken seien.
Die "Eskalation extremistischer Gewalt" kommt dafür gar nicht wieder vor - muss aber auch nicht, denn handwerklich ist das so super. Es gilt die Maxime: Vergleiche, was nicht zu vergleichen ist, schwenke ab auf Bereiche, die mit dem Inhalt des zu Sagenden nicht zu tun haben, und verwirbele möglichst viele Informationen, von denen erstens nicht klar ist, welche Relevanz sie haben, und die zweitens etwas zu belegen scheinen, was die Leser ohnehin fürchten.
Dass die Internetkriminalität beständig zunimmt etwa. Die "bittere Bilanz der Bundeskriminalpolizei" (Bild) bestätigt es: "Schon 250 000 Straftaten im Internet!" Dass diese Zahl bei 50 Millionen Internetnutzern bedeutet, dass gerademal 0,005 Prozent aller Websurfer Opfer irgendeiner Art von Onlinebetrug geworden sind, während 50 Milllionen Fahrradfahrer bei zuletzt 360.000 gestohlenen Rädern beinahe die doppelte Chance haben, betroffen zu werden, bleibt ebenso unerwähnt wie der Fakt, dass der Schaden von Fahraddiebstählen mit 136 Millionen Euro nach wie vor weit über dem durch Online-Betrug angerichteten von 61 Millionen liegt.
Fahrraddiebstahl eignet sich nicht, Angst auszulösen. Der Diebstahl eines Passwortes schon. Also warnt der Innenminister nicht vor Fahrraddieben, sondern von ominösen Webbetrügern, die angeblich immer öfter Daten aus sozialen Netzwerkes stehlen. Dass sie das offenbar deutlich weniger öfter tun als sich die Deutschen in ihrer Gesamtheit bei sozialen Netzwerken herumtreiben, tut wiederum nichts zur Sache. Außen vor bleibt also wiederum die Kerninformation: Der Zuwachs an kriminellen Aktivitäten in Sozialen Netzwerken hält nicht Schritt mit dem Wachstum der sozialen Netzwerke selbst. Anders gesagt. Die Wahrscheinlichkeit, bei Facebook und Co. Opfer einer kriminellen Attacke zu werden, steigt nicht etwa, wie vom Innenminister vor- und von der gesamten Presse nachgebetet. Sondern sie sinkt.
Hal Faber über mediale Projektionen


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