“Im Stall bei Esel, Ochs und Rind, zur Nacht geboren ward das Kind.
und wieder still wie ehedem, der Stern leucht’ über Bethlehem,
Gott in der Höhe sei Preis und Ehr, und Frieden den Menschen.”
Vor 37 Jahren habe ich diese Zeilen im sogenannten Bauernkalender gesungen, zusammen mit dem Schulchor meiner Internatsschule in düren. Es war mitten im sommer, und es war seltsam, in der Hitze des Juni ein Weihnachtslied zu singen.
Ein paar Jahre später, heute vor 30 Jahren, besuchte ich erstmals in meinem Leben eine Christmette, einen Mitternachtsgottesdienst.
Es war kalt, aber es hatte nicht geschneit. Der 24. Dezember 1988 war ein Samstag, und ich befand mich mit meinen Eltern in unserem Ferienhäuschen auf Heelderpeel, jenem Campingplatz in den Niederlanden, den ich auch heute noch als meine Heimat ansehe. Wir versuchten, uns das Weihnachtsfest so schön wie möglich zu gestalten, doch es war sehr schwer. Meine Eltern hatten für meine Nichten und Neffen ein riesiges Lebkuchenhaus gebaut, mit Zuckerguss als Schnee, mit kleinen süßen Perlen als verschneiten Weg zur Tür, mit einer Lampe im Inneren und mit geschmückten Fenstern und Türen. Das Haus bestand praktisch vollständig aus Süßigkeiten, und 5 Kinder würden sich in den kommenden Wochen daran gütlich tun, nachdem sie es ausgiebig bewundert hatten. Diese Arbeit fiel meinem Vater sehr schwer. Er war seit vielen Jahren herzkrank, doch in den letzten zwei Monaten hatte sich seine Situation stetig verschlechtert. Er hatte so große Schmerzen, dass er oft laut aufschrie, und immer wieder erzählte er uns, dass er das Gefühl hatte, er müsste sich räuspern oder etwas aushusten, was ihm nicht gelang. Zwei Wochen nach diesem Weihnachtsfest würden wir erfahren, dass er Wasser in der Lunge hatte, eine weitere Woche später würde er tot sein.
Obwohl wir versuchten, zu Weihnachten eine gute Stimmung zu bewahren, gelang uns das nur selten, also beschlossen meine Mutter und ich, dass wir mal raus mussten. Da erfuhren wir, dass in dieser Nacht in der Kantine des Campingplatzes ein Mitternachtsgottesdienst stattfinden würde. Zwar waren wir alle keine Kirchgänger, doch wir beschlossen, an diesem Gottesdienst teilzunehmen.
Die Kantine, der Festsaal, in dem sonst die Disco, kleine Konzerte, Talentshows und andere Events stattfanden, war zwar nicht vollständig gefüllt, doch es kam eine große Anzahl Menschen. Vermutlich kamen viele der anwesenden Camper, und einige Leute aus dem Nachbardorf Grathem waren sicher auch dabei. Ich hörte das Lachen eines Baby’s, und meine Mutter erzählte mir, dass auf der Bühne ein Stall mit Krippe aufgebaut sei. Dort stehe eine junge Familie, die Maria, Josef und das Jesuskind verkörpern sollten. Und daneben, friedlich fressend und hin und wieder am Gras rupfend und kauend, stand ein kleines Pony, ein Schaf und ein kleiner Esel, wenn ich mich recht erinnere. Vermutlich waren es Tiere der Bauern, die um den Campingplatz ihre Stallungen und Felder haben. Die Tiere waren sichtlich an Menschen gewöhnt und fühlten sich wohl, später gingen viele hin und streichelten sie.
Vom Gottesdienst selbst weiß ich nicht mehr viel. Die Weihnachtsgeschichte wurde gelesen, es wurden Lieder gesungen, die ich nicht kannte, und wir wurden auf niederländisch und deutsch angesprochen. Was ich aber immer noch fühlen kann, dass ist diese friedliche Ruhe, die uns umhüllte. Dass die heilige Familie und sogar die Tiere im Stall heute Nacht persönlich anwesend waren, gab diesem Gottesdienst etwas lebensnahes und feierliches zugleich. Es war eine sternenklare Nacht, und nach der Messe würden alle durch die kalte Dunkelheit ihrer Wege gehen, beschienen von den Sternen, vom kalten Wind doch warm umfangen. Ich kann kaum in Worte fassen, was diese Nacht für mich war, aber ich weiß noch, dass mir Tränen in den Augen standen. Die Anspannung über den Gesundheitszustand meines Vaters wich für einen kurzen Moment, oder zumindest wurden die Zwänge, die die Sorgen innen hielten, gelockert.
Mein Vater war nicht mit uns gegangen, er hätte eine so lange Zeit nicht still und ohne Schmerzensschreie an einem Ort sitzen können. Meine Mutter und ich genossen zunächst, dass wir sein Leid für eine Stunde nicht vor Augen hatten, und kehrten dann so ausgeruht und fröhlich zu ihm zurück, dass wir ihn ein wenig anstecken konnten.
Wenn ich heute im Sommer in die Kantine komme, die seither ein wenig zum Restaurant umgebaut wurde, denke ich oft an die Mitternachtsmesse mit Esel, Schaf und Pferd zurück. Damals gab es zwei richtig große Flügeltüren, die direkt in den Saal führten, direkt zur Bühne, die nur ein freier Platz war und nicht erhöht. Ich stelle mir vor, wie die Bauern mit ihren liebsten Tieren und mit der heiligen Familie in die Kantine einzogen, und wie sie nachher hinter uns her wieder hinaus trabten. Es war eine schöne, ruhige, friedliche Nacht. Das erste mal seit meiner Kindheit, und für lange zeit das letzte mal, dass sie etwas heiliges an sich hatte.
Ich wünsche allen Leserinnen und Lesern dieses Blogs eine friedvolle, gesegnete Weihnacht.