Große Ereignisse und Krisen haben häufig die Eigenschaft, dass sie einer Gesellschaft den Spiegel vorhalten. Das zwingt sie dazu, Fragen offen zu diskutieren, die man bislang im Interesse allgemeiner Ruhe und Wohlverhalten unter den Teppich gekehrt hatte. Denn tatsächlich wird Deutschland, wie Stefan Pietsch das in seinem Artikel formuliert hat, ja ein Wandel aufgezwungen. Es ist eine Debatte, die das letzte Mal zu einer Zeit geführt wurde, als Joschka Fischer noch Außenminister war und der Untergang des Abendlandes durch eine allzu freizügige Visa-Vergabe gekommen schien. Über die Ausmaße dieses Skandals kann man heute nur noch lachen.
Die aktuelle Flüchtlingskrise hat in Deutschland ein weit verbreitetes Unbehagen ausgelöst. Es ist ein Unbehagen an dem von Stefan Pietsch angesprochenen Wandel, den über eine Million syrischer Flüchtlinge praktisch zwangsläufig mit sich bringen werden. Es ist Unbehagen über den Staat, der nicht mehr in der Lage scheint, der Lage Herr zu werden. Es ist ein Unbehagen über die Meinungseliten, deren Ansichten sich oft so sehr von der der "normalen" Leute zu unterscheiden scheinen. Und es ist ein Unbehagen über die Demokratie, die nicht mehr in der Lage scheint, die Politik ausreichend zu legitimieren. Eine ganze Menge Schein, eine ganze Menge Konjunktive. Sie brechen die Selbstverständlichkeiten und Normen auf, die unseren Alltag für gewöhnlich strukturieren, und zwingen uns, uns den Fragen einer Extremsituation zu stellen.
Ist es etwa absurd, "jedem Menschen, so fremd er auch sein mag, offen und herzlich begegnen zu wollen"? Steht uns hier die Biologie wirklich im Wege, wie Stefan Pietsch postuliert? Ich bin kein Anhänger eines biologischen Determinismus. Wir sind kopfgesteuert genug dass es uns möglich ist, unsere Instinkte gegen das Fremde zu unterdrücken und eine Willkommenskultur bewusst und aus eigenem Willen zu gestalten. Wir haben im September genau das am Bahnhof in München und anderswo sehen können. Hierfür braucht es Gruppendynamik, Vorbilder und Signale. Die euphorische Berichterstattung in vielen Medien und die Äußerungen von Kanzlerin und einzelnen Ministern lieferte genau dieses.
Die vorsichtige Formulierung zeigt bereits, dass dies keine allgemeine Erscheinung war. Besonders die FAZ tat und tut sich als kritisch-pessimistisches Bollwerk gegen die Willkommenskultur hervor, und die CSU, Thomas de Mazière und die AfD bieten in den Reihen der Politik innerhalb wie außerhalb von Koalition und Parlament Kritik am Vorgehen (und das übrigens, ohne dass irgendeiner der Beteiligten deswegen gleich Rassist ist). Die Behauptung, dass gegen den (tatsächlich flüchtlingsfreundlichen) Mainstream kein Kraut gewachsen sei und kein Raum bestehe ist schlicht unwahr. Die Stilisierung zu Opfern einer Meinungsdiktatur steht diesen Pessimisten schlecht, denn sie ist offensichtlich unwahr. Es lohnt sich an dieser Stelle einmal mehr darauf hinzuweisen, dass Meinungsfreiheit nicht Freiheit vor Kritik bedeutet und genausowenig eine Garantie, dass jemand diese Meinung hören will. Es ist die Freiheit, sie auszusprechen, und die wird in Deutschland niemand genommen. Auch ist es jederzeit möglich, die Parteien abzuwählen, die sich diese Politik auf die Fahnen geschrieben haben. Bislang sind die Umfrageverluste der CDU moderat, SPD und Grüne bleiben konstant und die AfD gewinnt etwas. Die Landtagswahlen 2016 werden im Spiegel der Krise zeigen, wie viele Menschen ernsthaft erregt genug sind, um ihren Forderungen elektoralen Nachdruck zu verleihen.
Gleichzeitig sollen die Herausforderungen, vor denen Deutschland steht, nicht klein geredet werden. Der Zuwachs einer Million neuer schwer in Arbeitsmarkt und Gesellschaft integrierbarer Menschen, die zu weiten Teilen weder Deutsch noch Englisch sprechen, ist keine leichte Aufgabe. Dass die Bürokratie an dieser Aufgabe scheitert, ist nachvollziehbar, denn sie ist für diese Zahlen schlicht nicht ausgelegt. Das Unternehmen, das einen fünf- bis sechsfachen Anstieg der Aufträge einfach so bedienen kann existiert schließlich auch nicht. Die Flüchtlingskrise ist eine genuine Krise, nicht, weil sie für Deutschland so gefährlich ist, sondern weil sie eine "schwierige Situation, den Höhe- und Wendepunkt einer Situation darstellt" (Duden). Es spricht eher für uns, dass wir keine leerstehenden Wohnungen für eine Million Leute haben, denn das ist Ausdruck für die relative Gesundheit Deutschlands, die sich im Spiegel der Krise offenbart. Auch gibt es, wenig überraschend, nicht genügend Lehrer für Deutsch als Fremdsprache. Das liegt daran, dass bislang nur ein bescheidener Bedarf dafür bestand. Auch die Verwaltungsstrukturen für riesige Flüchtlingscamps und ihre entsprechende Verteilung fehlten bislang, weil der Bedarf fehlte. Dies muss nun innerhalb kurzer Zeit gestemmt werden. Und um mit Angela Merkel zu sprechen: wir können das auch schaffen.
An dieser Stelle muss man auch als Vertreter der Willkommenskultur ehrlich genug sein, um zu sagen: Ja, wir schaffen das. Aber es wird weder einfach noch billig. Aber für so etwas hat man einen Staat. Für solche Krisen hat man Haushaltsüberschüsse erwirtschaftet. Und auch wenn ich fast - fast - Mitleid mit Wolfgang Schäuble und seiner dahinschwindenden schwarzen Null habe, so werden wir doch nur auf ein Niveau zurückrutschen, das wir bereits gut kennen. Und ja, am ehrlichsten wäre natürlich eine Steuererhöhung, vielleicht in Form einer einmaligen Solidaritätsabgabe (selbst eine einmalige Abgabe von 1% des Bruttogehalts, die niemand spürt, würde 171 Millionen bringen, mit denen man etwas finanzieren kann). Das ist im aktuellen politischen Klima aber kaum vorstellbar. Der deutsche Staatshaushalt wird so eben das Äquivalent einer leichten Rezession an zusätzlichen Sozialausgaben verkraften müssen, aber glücklicherweise ohne den einhergehenden gleichzeitigen Verlust von Steuereinnahmen durch wegfallende Arbeitsplätze und Produktion. Das wird nicht ohne Reibungen abgehen und nicht billig sein, aber wer behauptet, es sei unmöglich, muss sich einen Alarmisten schelten lassen. Deutschland kann das schaffen.
Werden wir dann, wie manche Optimisten verkünden, binnen kurzer Zeit eine Million motivierter Fachkräfte haben, die nach kurzem Zusatzstudium an die Werkbänke der Republik strömen? Das dürfte eher unwahrscheinlich sein. Stattdessen werden wir wohl Kurse anbieten müssen, werden desillusionierte Flüchtlingen haben, die in Apathie versinken oder in die Kriminalität abrutschen. Das ist nur zu erwarten und kann angesichts der Monumentalität der Unternehmung und der mangelnden Einrichtungen auch kaum anders sein. Aber es wird auch Erfolgsgeschichten geben, Flüchtlinge, die Deutsch lernen, die Ausbildungen machen und, ja, die Ingenieure werden und die Autos der nächsten Generation bei Daimler und VW mitentwerfen, oder vielleicht zumindest einen sauberen Motor. Und es wird eine große Menge geben, die in schlecht bezahlten Dienstleistungsjobs ein karges Auskommen fristet, und das auch nur, wenn die Integrationsmaßnahmen vorher Erfolg hatten. All das ist absehbar, all das ist ist kaum vermeidlich, aber wir haben Einfluss auf die Relationen. Werden wir viele Gewinner haben, oder viele Verlierer? Es hängt von der Qualität der Lösungen ab, die die Bürokratie findet, und an der Bereitschaft der Politik, diese Maßnahmen zu finanzieren.
Stellt sich natürlich die Frage, warum man das Geld überhaupt investieren soll. Was gehen uns schließlich die Flüchtlinge an? Auch hier hält uns die Flüchtlingskrise einen Spiegel vor. Es ist zwar Mode geworden, auf "Gutmenschen" zu schimpfen und verächtlich über die "moralisierende Weltmacht" BRD zu reden, aber tatsächlich handelt es sich vor allem um eine moralische Frage. Warum sollten wir die Flüchtlinge aufnehmen? Weil wir es können. Im Gegensatz zum Libanon und zu Jordanien können wir es wirklich und müssen es nicht. Wir haben keine rechtliche Verpflichtung, alle diese Flüchtlinge aufnehmen. Wir könnten uns wie in Griechenland hinter einem Wall aus Paragraphen verschanzen, die Grenze mit Zäunen, Mauern und Wachen verschließen und auf die Einhaltung von Dublin-II pochen, während wir uns gleichzeitig von Verfassungsjuristen erklären lassen, dass der Asyl-Paragraph im Grundgesetz für solche Menschenmengen ja nie wirklich ausgelegt war. Die Bilder von im Winterregen frierenden Flüchtlingen könnten wir genausogut ignorieren wie die Nachrichten von im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlingen in den letzten Jahren auch. Aber genau das tun wir nicht. Die Mehrheit in Deutschland - und es ist eine Mehrheit, egal was FAZ und Pegida auch sagen mögen - hat sich für die Moral entschieden, für die Aufnahme. Vielleicht nicht völlig selbstlos, denn natürlich gefallen wir uns im Spiegel als "gute Deutsche" posierend, aber wir haben es getan.
"Never let a good crisis go to waste" heißt es, nur halb scherzend, in dem bekannten Sprichwort. Deutschland steht tatsächlich gerade an einem Entscheidungspunkt. Die alte Frage, ob wir ein Einwanderungsland sind, und was das eigentlich konkret bedeutet, schwemmt wieder an die Oberfläche. Der Spiegel der Flüchtlingskrise gibt jedem, der in ihn hineinblickt - und wer kann das bei der Polarisierung gerade vermeiden? - einen mindestens ebenso tiefen Einblick in seine eigenen Ansichten, Vorstellungen und Wünsche wie in die der Flüchtlinge. Wenn ich hineinsehe, sehe ich weder den Berufsoptimismus mancher noch den Berufpessimismus manch anderer. Nach zehn Jahren Merkel-Kanzlerschaft falte ich zum ersten Mal die Hände zur Raute und stimme ihr zu. Wir können das schaffen. Nicht: Wir werden das schaffen. Nicht: Es wird blühende Landschaften geben. Es ist eine prototypische Merkel-Aussage, allem sie umgebenden Grandeur zum Trotz. Wir können. Es gibt keinen Automatismus, keine Garantie. Aber wir können.
Die aktuelle Flüchtlingskrise hat in Deutschland ein weit verbreitetes Unbehagen ausgelöst. Es ist ein Unbehagen an dem von Stefan Pietsch angesprochenen Wandel, den über eine Million syrischer Flüchtlinge praktisch zwangsläufig mit sich bringen werden. Es ist Unbehagen über den Staat, der nicht mehr in der Lage scheint, der Lage Herr zu werden. Es ist ein Unbehagen über die Meinungseliten, deren Ansichten sich oft so sehr von der der "normalen" Leute zu unterscheiden scheinen. Und es ist ein Unbehagen über die Demokratie, die nicht mehr in der Lage scheint, die Politik ausreichend zu legitimieren. Eine ganze Menge Schein, eine ganze Menge Konjunktive. Sie brechen die Selbstverständlichkeiten und Normen auf, die unseren Alltag für gewöhnlich strukturieren, und zwingen uns, uns den Fragen einer Extremsituation zu stellen.
Ist es etwa absurd, "jedem Menschen, so fremd er auch sein mag, offen und herzlich begegnen zu wollen"? Steht uns hier die Biologie wirklich im Wege, wie Stefan Pietsch postuliert? Ich bin kein Anhänger eines biologischen Determinismus. Wir sind kopfgesteuert genug dass es uns möglich ist, unsere Instinkte gegen das Fremde zu unterdrücken und eine Willkommenskultur bewusst und aus eigenem Willen zu gestalten. Wir haben im September genau das am Bahnhof in München und anderswo sehen können. Hierfür braucht es Gruppendynamik, Vorbilder und Signale. Die euphorische Berichterstattung in vielen Medien und die Äußerungen von Kanzlerin und einzelnen Ministern lieferte genau dieses.
Die vorsichtige Formulierung zeigt bereits, dass dies keine allgemeine Erscheinung war. Besonders die FAZ tat und tut sich als kritisch-pessimistisches Bollwerk gegen die Willkommenskultur hervor, und die CSU, Thomas de Mazière und die AfD bieten in den Reihen der Politik innerhalb wie außerhalb von Koalition und Parlament Kritik am Vorgehen (und das übrigens, ohne dass irgendeiner der Beteiligten deswegen gleich Rassist ist). Die Behauptung, dass gegen den (tatsächlich flüchtlingsfreundlichen) Mainstream kein Kraut gewachsen sei und kein Raum bestehe ist schlicht unwahr. Die Stilisierung zu Opfern einer Meinungsdiktatur steht diesen Pessimisten schlecht, denn sie ist offensichtlich unwahr. Es lohnt sich an dieser Stelle einmal mehr darauf hinzuweisen, dass Meinungsfreiheit nicht Freiheit vor Kritik bedeutet und genausowenig eine Garantie, dass jemand diese Meinung hören will. Es ist die Freiheit, sie auszusprechen, und die wird in Deutschland niemand genommen. Auch ist es jederzeit möglich, die Parteien abzuwählen, die sich diese Politik auf die Fahnen geschrieben haben. Bislang sind die Umfrageverluste der CDU moderat, SPD und Grüne bleiben konstant und die AfD gewinnt etwas. Die Landtagswahlen 2016 werden im Spiegel der Krise zeigen, wie viele Menschen ernsthaft erregt genug sind, um ihren Forderungen elektoralen Nachdruck zu verleihen.
Gleichzeitig sollen die Herausforderungen, vor denen Deutschland steht, nicht klein geredet werden. Der Zuwachs einer Million neuer schwer in Arbeitsmarkt und Gesellschaft integrierbarer Menschen, die zu weiten Teilen weder Deutsch noch Englisch sprechen, ist keine leichte Aufgabe. Dass die Bürokratie an dieser Aufgabe scheitert, ist nachvollziehbar, denn sie ist für diese Zahlen schlicht nicht ausgelegt. Das Unternehmen, das einen fünf- bis sechsfachen Anstieg der Aufträge einfach so bedienen kann existiert schließlich auch nicht. Die Flüchtlingskrise ist eine genuine Krise, nicht, weil sie für Deutschland so gefährlich ist, sondern weil sie eine "schwierige Situation, den Höhe- und Wendepunkt einer Situation darstellt" (Duden). Es spricht eher für uns, dass wir keine leerstehenden Wohnungen für eine Million Leute haben, denn das ist Ausdruck für die relative Gesundheit Deutschlands, die sich im Spiegel der Krise offenbart. Auch gibt es, wenig überraschend, nicht genügend Lehrer für Deutsch als Fremdsprache. Das liegt daran, dass bislang nur ein bescheidener Bedarf dafür bestand. Auch die Verwaltungsstrukturen für riesige Flüchtlingscamps und ihre entsprechende Verteilung fehlten bislang, weil der Bedarf fehlte. Dies muss nun innerhalb kurzer Zeit gestemmt werden. Und um mit Angela Merkel zu sprechen: wir können das auch schaffen.
An dieser Stelle muss man auch als Vertreter der Willkommenskultur ehrlich genug sein, um zu sagen: Ja, wir schaffen das. Aber es wird weder einfach noch billig. Aber für so etwas hat man einen Staat. Für solche Krisen hat man Haushaltsüberschüsse erwirtschaftet. Und auch wenn ich fast - fast - Mitleid mit Wolfgang Schäuble und seiner dahinschwindenden schwarzen Null habe, so werden wir doch nur auf ein Niveau zurückrutschen, das wir bereits gut kennen. Und ja, am ehrlichsten wäre natürlich eine Steuererhöhung, vielleicht in Form einer einmaligen Solidaritätsabgabe (selbst eine einmalige Abgabe von 1% des Bruttogehalts, die niemand spürt, würde 171 Millionen bringen, mit denen man etwas finanzieren kann). Das ist im aktuellen politischen Klima aber kaum vorstellbar. Der deutsche Staatshaushalt wird so eben das Äquivalent einer leichten Rezession an zusätzlichen Sozialausgaben verkraften müssen, aber glücklicherweise ohne den einhergehenden gleichzeitigen Verlust von Steuereinnahmen durch wegfallende Arbeitsplätze und Produktion. Das wird nicht ohne Reibungen abgehen und nicht billig sein, aber wer behauptet, es sei unmöglich, muss sich einen Alarmisten schelten lassen. Deutschland kann das schaffen.
Werden wir dann, wie manche Optimisten verkünden, binnen kurzer Zeit eine Million motivierter Fachkräfte haben, die nach kurzem Zusatzstudium an die Werkbänke der Republik strömen? Das dürfte eher unwahrscheinlich sein. Stattdessen werden wir wohl Kurse anbieten müssen, werden desillusionierte Flüchtlingen haben, die in Apathie versinken oder in die Kriminalität abrutschen. Das ist nur zu erwarten und kann angesichts der Monumentalität der Unternehmung und der mangelnden Einrichtungen auch kaum anders sein. Aber es wird auch Erfolgsgeschichten geben, Flüchtlinge, die Deutsch lernen, die Ausbildungen machen und, ja, die Ingenieure werden und die Autos der nächsten Generation bei Daimler und VW mitentwerfen, oder vielleicht zumindest einen sauberen Motor. Und es wird eine große Menge geben, die in schlecht bezahlten Dienstleistungsjobs ein karges Auskommen fristet, und das auch nur, wenn die Integrationsmaßnahmen vorher Erfolg hatten. All das ist absehbar, all das ist ist kaum vermeidlich, aber wir haben Einfluss auf die Relationen. Werden wir viele Gewinner haben, oder viele Verlierer? Es hängt von der Qualität der Lösungen ab, die die Bürokratie findet, und an der Bereitschaft der Politik, diese Maßnahmen zu finanzieren.
Stellt sich natürlich die Frage, warum man das Geld überhaupt investieren soll. Was gehen uns schließlich die Flüchtlinge an? Auch hier hält uns die Flüchtlingskrise einen Spiegel vor. Es ist zwar Mode geworden, auf "Gutmenschen" zu schimpfen und verächtlich über die "moralisierende Weltmacht" BRD zu reden, aber tatsächlich handelt es sich vor allem um eine moralische Frage. Warum sollten wir die Flüchtlinge aufnehmen? Weil wir es können. Im Gegensatz zum Libanon und zu Jordanien können wir es wirklich und müssen es nicht. Wir haben keine rechtliche Verpflichtung, alle diese Flüchtlinge aufnehmen. Wir könnten uns wie in Griechenland hinter einem Wall aus Paragraphen verschanzen, die Grenze mit Zäunen, Mauern und Wachen verschließen und auf die Einhaltung von Dublin-II pochen, während wir uns gleichzeitig von Verfassungsjuristen erklären lassen, dass der Asyl-Paragraph im Grundgesetz für solche Menschenmengen ja nie wirklich ausgelegt war. Die Bilder von im Winterregen frierenden Flüchtlingen könnten wir genausogut ignorieren wie die Nachrichten von im Mittelmeer ertrinkenden Flüchtlingen in den letzten Jahren auch. Aber genau das tun wir nicht. Die Mehrheit in Deutschland - und es ist eine Mehrheit, egal was FAZ und Pegida auch sagen mögen - hat sich für die Moral entschieden, für die Aufnahme. Vielleicht nicht völlig selbstlos, denn natürlich gefallen wir uns im Spiegel als "gute Deutsche" posierend, aber wir haben es getan.
"Never let a good crisis go to waste" heißt es, nur halb scherzend, in dem bekannten Sprichwort. Deutschland steht tatsächlich gerade an einem Entscheidungspunkt. Die alte Frage, ob wir ein Einwanderungsland sind, und was das eigentlich konkret bedeutet, schwemmt wieder an die Oberfläche. Der Spiegel der Flüchtlingskrise gibt jedem, der in ihn hineinblickt - und wer kann das bei der Polarisierung gerade vermeiden? - einen mindestens ebenso tiefen Einblick in seine eigenen Ansichten, Vorstellungen und Wünsche wie in die der Flüchtlinge. Wenn ich hineinsehe, sehe ich weder den Berufsoptimismus mancher noch den Berufpessimismus manch anderer. Nach zehn Jahren Merkel-Kanzlerschaft falte ich zum ersten Mal die Hände zur Raute und stimme ihr zu. Wir können das schaffen. Nicht: Wir werden das schaffen. Nicht: Es wird blühende Landschaften geben. Es ist eine prototypische Merkel-Aussage, allem sie umgebenden Grandeur zum Trotz. Wir können. Es gibt keinen Automatismus, keine Garantie. Aber wir können.