Im Secondhandshop der Unheilsgeschichte

Erstellt am 10. April 2012 von Ppq @ppqblog
Lange bevor Günter Grass in die Rolle des Thilo Sarrazin schlüpfte, der seinerseits in die Haut der ehemaligen Nachrichtensprecherin Eva Herman geschlüpft war, die ihrerseits die Rolle des CDU-Funktionärs Martin Hohmann übernommen hatte, der zuvor in die viel zu großen Schuhe von Martin Walser gestolpert war, gelang es einem anderen großen deutschen Dichter, mit einem Hassgedicht der ungereimten Art alle Geister der unseligen Vergangenheit heraufzubeschwören.
Botho Strauß trat anno 1993 mit seinem Anschwellenden Bocksgesang an, die Nation in Aufruhr zu versetzen. In einer Reportage aus dem "Secondhandshop der Unheilsgeschichte" (Strauß) berichtete der im historischen Naumburg direkt an der "Straße der Gewalt" geborene Dramatiker von einem Land, das in der "Beständigkeit des sich selbst korrigierenden Systems" gefangen ist. "Ob das noch Demokratie ist oder schon Demokratismus: ein kybernetisches Modell, ein wissenschaftlicher Diskurs, ein politisch-technischer Selbstüberwachungsverein", Strauß zweifelte noch. Sicher sei, "dieses Gebilde braucht immer wieder wie ein physischer Organismus den inneren und äußeren Druck von Gefahren, Risiken, sogar eine Periode von ernsthafter Schwächung, um seine Kräfte neu zu sammeln, die dazu tendieren, sich an tausenderlei Sekundäres zu verlieren".
Der "Spiegel" erklärte Strauß zum "Lehrmeister des Hasses", die "Welt" attestierte, er sei "politisch unzurechnungsfähig". Der Georg-Büchner-Preisträger wurde zum "Dichter der Gegen-Aufklärung" (Michael Wiesberg) erklärt, Ignaz Bubis bescheinigte ihm, eine "Stimmung im Lande" mitzuverantworten, die es möglich mache, dass Asylanten ermordet und Synagogen in Brand gesetzt wurden. Der Reigen der Theaterpreise, die der Gelegenheitsphilosoph bis dahin in schöner Regelmäßigkeit hatte entgegennehmen dürfen, riss abrupt ab.Neun Jahre gab es keine Auszeichnung mehr.
Was Botho Strauß schrieb, war vielleicht zu wahr, um wahr zu sein. Dafür spricht, dass sein "Bocksgesang" bis heute zutreffend beschreibt, was vorgeht, etwa wenn er die Starparade der Empörten schildert, die immer wieder und immer öfter losmarschiert, wenn ein Kreuz beschlagen werden muss: "Ohne großen Unterschied ist es die öffentliche Intelligenz, sind es die gewitzten und zerknirschten Gewissenswächter, die ihren aufrechten Gang im wesentlichen nutzen, um zum nächsten Mikrofon oder Podium zu schreiten, und die gegenwärtig allesamt sich der erbitterten Anstrengung unterziehen, mit rationalen Mitteln eine Beschwörung zu betreiben, als erstrebten sie, wenigstens für sich und ihre Rede, gerade jene magische und sakrale Autorität, die sie als aufrechte Wächter aufs schärfste bekämpfen."
Eine unendliche Geschichte, in der es stets nur um Deutungshoheit geht. "Das jetzt vernehmbare Rumoren, die negative Sensibilität der feindlichen Reaktionen, die sofort Tollheiten des Hasses werden, sind seismische Vorzeichen, Antizipationen einer größeren Bedrängnis, die sich durch jene ankündigt, die sie am ärgsten spüren werden", schrieb Strauß, als habe er das Zeitalter des Permanentskandals vorhersehen können.
Die Aktiven wechseln, die Anlässe ändern sich, die Muster bleiben gleich. "Das "Deutsche", das sie meinen, ist nur ein Codewort, darin verschlüsselt: die weltgeschichtliche Turbulenz, der sphärische Druck von Machtlosigkeit, die Aufwallung in der zweiten Generation, Tabuverletzung und Emanzipation in später Abfolge und unter umgekehrtem Vorzeichen, die Verunsicherung und Verschlechterung der näheren Lebensumstände, die Heraufkunft der "teuren Zeit" im Sinne des Bibelworts; es ist der Terror des Vorgefühls."
Grass hätte es vielleicht ein "Gedicht" genannt, Grass, der laut "Welt" schon im Jahr 2001 "fern der Wirklichkeit" war. Strauß´, der sich als "Abgesonderter" sieht, der in der Geschichte schon, "immer und ständig von den Gewalten des Blödsinns, die in seiner Zeit entfesselt waren, umgeben und bedrängt" worden sei, wählte den "Bocksgesang, eine direkte Übersetzung des griechischen Wortes Tragödie ins Deutsche. "Überhaupt ist pikant, wie gierig der Mainstream das rechtsradikale Rinnsal stetig zu vergrößern sucht", schrieb er, "das Verpönte immer wieder und noch einmal verpönt, nur um offenbar immer neues Wasser in die Rinne zu leiten, denn man will's ja schwellen sehen, die Aufregung soll sich ja lohnen."
Auch der Rest der Analyse klingt, als beschreibe der Dichter den "Sarrazin-Skandal" (Stern) oder die "Affäre Grass" (Tagesschau): Die Großmedien legen selbst vor, was sie danach in Empörung versetzt: "Das vom Mainstream Mißbilligte wird von diesem großgezogen, aufgepäppelt, bisweilen sogar eingekauft und ausgehalten", heißt es bei Botho Strauß, "das mediale Pokerface und die verzerrte Visage des Fremdenhassers bilden den politischen Januskopf."