Im Paradies

Von Guidorohm

von Markus Michalek

Weil sich das dunkle Becken mit erschreckender Geschwindigkeit rot färbte und sich die Wasseroberfläche wieder beruhigte; wo zuvor noch wütende Strudel und kurz aufzeigende Fischleiber gewesen waren: es ist egal, in welcher Reihenfolge Jakob beginnt.

Die zweiflügelige Tür nach draußen aufgestoßen, schlägt ihm die Abendsonne entgegen. Wie schön es ist, wenn sie sich über den Bergkamm senkt. Unterhalb der scharfzackigen Felsen beginnt ein sattes Waldgrün, seine Ausläufer ziehen sich bis zur Grenze des Anwesens. Es ist zu schön – nach wenigen, hastigen Schritten über den Kiesweg bleibt er stehen. Hinter ihm das Anwesens, er hört noch die ersten unter dem Türrahmen gesprochenen Worte, ehe sie ins Innere gegangen waren, „Jakob, schön, dass Du gekommen bist. Diese Landschaft ist ein Paradies, findest Du nicht? Ein Paradies, das mir gehört.“
Jakob hatte geschwiegen; gedacht, dass niemand ein Paradies besitzen sollte. „Bis hinten über den Wald hinaus, gehört alles mir“, sagte Lukas nochmals. In diesem Blick lag nur Stolz. Kurz darauf waren sie hinein gegangen.

In den großen Fenstern des ersten Stocks spiegelt sich das Abendlicht. „Leb wohl Lukas“ und er denkt daran, wie sich das Wasser wütend kräuselte – kein würdiges Ende. Seine Hände zittern. Bis zum Dorf sind es nur fünf Kilometer und dennoch, fast eine Ewigkeit. Zwischen den Bäumen eine dämmrige Stille – nur von einem gelegentlichen Knacken durchbrochen, es riecht nach totem Holz. An der dritten Kurve ruht er aus. Er möchte weinen, nur …

Durch den Wald hört er die Kirchenuhr für die Abendmesse läuten. Die Menschen werden in der Kirche sein. Nur wenige werden sich später an mich erinnern, denkt er. Es ist gut, dass es die Kirche gibt. Der Heiland gewährt allen Schutz. Auch Sündern. Seine Wege sind unergründlich, sein Schutz ebenfalls. Er würde den Bus nehmen, in die nächste Stadt, den Zug in die nächste größere Stadt, dort den Transfer zum Flughafen, den Flieger in ein Land, irgendein Land. Und langsam geht er weiter, hinab ins Dorf.

Sie saßen vor dem offenen Kamin, Jakob versuchte sich vorzustellen, wie Lukas hier lebte. Am Abend, das Licht über dem Wald – am Morgen vielleicht wabernder Nebel, der Geruch von Frische. Nachts, die Tiere. Vor allem aber die Stille. „Es ist so still, dass man oft anstelle der Stille etwas anderes hören kann“, sagte Lukas und als Jakob fragend mit den Schultern zuckte, sagte er: „ich höre, wie die Zeit vergeht. Ich höre den leisesten Windhauch, der um den Stamm eines Baumes streicht. Ich höre die Abwesenheit von Lärm und weiß, dass ich lebe.“ Lukas hatte sein Weinglas abgesetzt und wandte sich ihm zu, „Du solltest hier bleiben. Es würde dir gefallen und es würde dir gut tun – nur, du kannst es nicht, richtig?“ Vielleicht, dachte Jakob. Lukas´ Gesicht war leicht gebräunt, es sah richtig gesund aus, Landliebe gesund, fand Jakob. Die Augenringe, die Lukas früher fast stolz getragen hatte, waren verschwunden. „Ich bin zu jung für das Land“, antwortete er. „Quatsch“, sagte Lukas, „Wann bist du das letzte Mal mit dem Sonnenaufgang erwacht? Wir brauchen mehr Wein, wir werden auf den Morgen warten“, sagte er und ließ Jakob allein. „Ich kenne die Sonne, wie sie sich über die Stadt ausbreitet“, hatte Jakob noch leise gesagt.

Mit entschlossenen Schritten tritt Jakob aus dem Schatten der Bäume heraus und folgt dem Weg ins Dorf. Dann hört er einen Schrei. Was er erst jetzt sieht: drei Menschen, die über einem Haufen gebeugt, nah am Dorfrand stehen, nicht weit entfernt die ersten Häuser. Er weiß, es bringt ihn vom Weg ab, aber er kann nicht anders, er folgt diesem Schrei. Er ist fast dort, als er es erkennt: Eine Kuh, die gebärt. Wieder ein Schrei und er schaudert; die Vorderhufe sind bereits zu sehen, milchig und blutig klebt die Fruchtblase am schmutzigen Fell. Zunächst steht er nur einen Schritt daneben, die drei Männer beachten ihn nicht, sie ziehen, fluchen und die Kuh verdreht ihre Augen, die Zunge hängt ihr aus dem Maul, ihr Brustkorb pumpt schwer. Ob es das Kalb aus eigener Kraft ans Leben schaffen wird? Er hat den Tod heute schon einmal gesehen, ein weiterer wird nichts mehr ändern. Einer der Männer wickelt ein Seil um die kleinen Hufe des Kalbes, bemerkt seinen Schatten, blickt auf, „dass er mit anfassen soll, oder verschwinden“, die Stimme des Mannes ist grob, sein Gesicht ist von der Anstrengung gezeichnet. Jakob zieht das Jackett aus. Erschrickt. Es ist nicht seines, sondern Lukas Jackett, dass er in der Hand hält, er zögert. Aber dann greift er nach dem Seil und spannt seine Muskeln an. Er ist jetzt einer von ihnen, die Anstrengung tut ihm gut. Der Kopf des Kalbes zeigt sich, seine Augen sind geschlossen und ein toter Ausdruck liegt über dem Schädel. Soviel Mühe und Schweiß für eine Totgeburt? Die Kuh röchelt, sie röchelt, wie er nie gedacht hätte, dass ein Tier röcheln kann, die Männer lassen ihre Hände vom Seil, einer brüllt, „weiter machen“, wie wahnsinnig brüllt er sie an; mit einem kleinen „Plopp“ ist das Kalb draußen. Einer der Männer fängt an, dem neugeborenen Tier den Brustkorb zu massieren, der zweite schüttet ihm Tabletten aus einem kleinen Röhrchen in den Mund. Jakob und der dritte Mann stehen da, hilflos, wischen sich den Schweiß von ihrer Stirn, und jetzt? Er macht einen vorsichtigen Schritt rückwärts, greift das Jackett vom Boden hoch, das Kalb schlägt die Augen auf, blickt erschrocken in die Welt und einer der drei Männer fasst nochmals in die Kuh hinein, „nachsehen, ob da noch was ist“, aber außer viel Blut und dem Rest der Plazenta holt er nichts mehr heraus. Jakob dreht sich um und verschwindet mit schnellen Schritten zurück auf die Dorfstraße, als man ihm „Danke“ hinterher ruft, hebt er nur den Arm, er wird sich nicht mehr umdrehen.

Er passiert das Ortsschild, die Kirchenglocke schlägt zur Wandlung und er weiß endgültig, dass es kein Zurück mehr gibt. Er wird es nicht erklären können. Niemand wird ihm glauben. Für einen kurzen Moment ist er versucht, die Kirche zu betreten. Eine Kerze für Lukas, eine für ihn. Gleich jetzt die Messe lesen lassen. Beichtgeheimnis. Kirchenzuflucht. Jahrhundertealte Gesetze. Man wird ihm dennoch kein Asyl gewähren.

„Man legt hier noch Wert auf Gastfreundschaft“, hatte Lukas gesagt und sah ihn prüfend an. „Weil hier die Menschen noch etwas auf sich halten und gelten lassen, dass man den anderen braucht. Denkst Du, ich verdiene es nicht mehr, dein Freund zu sein?“
„Bist du nur deswegen hierher gekommen?“, Lukas blickte ihn herausfordernd an. „Du bist es doch gewesen, der fort gegangen ist, der wollte dass ich komme…“, sagte Jakob. Dann nahm Lukas seinen Arm, fast ein bisschen zu grob, „Komm, ich zeige dir etwas.“ Lukas zerrte ihn die breite Marmortreppe nach oben, durch den Salon, wo noch die Reste des Frühstücks standen, hinaus auf den Balkon im ersten Stock. Lukas Griff war fest, Jakobs Arm begann zu schmerzen. Vor ihnen lag der Garten des Anwesens, gepflegt, liebevoll ausgestattet mit kleinen Statuen, Blumenbeeten, einem Springbrunnen. Als Lukas losließ, rieb sich Jakob verstohlen die schmerzende Stelle. Lukas stützte sich auf die Brüstung, „das alles hier gehört mir…“
„Ist es denn so verdammt wichtig, dass es dir gehört?“
„Ja. Besitz ist das einzige, was uns am Ende bleibt.“
„Bist du es nicht müde?“
„Manchmal.“
„Warum bleibst du dann hier?“
„Warum sollte ich fortgehen?“

Wie Lukas unvermittelt eine Pistole in der Hand hielt, das Magazin herausschnellen ließ, es auf die Brüstung des Balkons legte, den Hahn spannte und Jakob den dunklen Lauf ans Auge hielt. „Tu es doch, tu es doch“, Jakobs Stimme war nur ein Flüstern, sein Auge blinzelte nicht. „Glaubst Du mir, dass noch eine Patrone in der Kammer ist?“, fragte Lukas. Jakob schwieg.

Lukas, der den Hahn vorsichtig entspannte, das Magazin wieder hinein schob und durchlud. „Keine Patrone in der Kammer“, sagte er und lachte. Ohne irgendeine Warnung zerschoss er in schneller Folge vier der kleinen Statuen, die im Garten verteilt waren. Erde spritze hoch und Scherben, dazwischen standen die Blumen sauber in Kreisen arrangiert. „Du bist ein guter Schütze“, sagte Jakob.
„Gehen wir hinein“, antwortete Lukas. „Die Jahre, die zwischen uns stehen“, hatte Jakob leise gesagt und sich eine Zigarette angezündet, ehe er Lukas ins Haus gefolgt war.

Auf dem Weg durch das Dorf denkt Jakob an das Kalb und ob es sein Leben zu schätzen weiß, und die Mutter, die röchelnd am Boden lag. Ob man ihn, Jakob, ebenfalls mit einem Seil herausgezogen hätte, oder einer Zange, wenn es nicht aus eigener Kraft gegangen wäre? Der schmale Grasstreifen der die Straße säumt, ist grau und schmutzig dort. Blutiges Gras hat er heute schon gesehen und Grünes, sauber geschnittenes, gestern noch.

Wie lange wird es dauern, bis man es entdeckt? Wie wird es sein, wenn man Nachforschungen anstellt?

In der linken Innentasche von Jakobs Jackett befindet sich sein Geldbeutel. Mit dem Ausweis, dem Führerschein, seinen Bankkarten, seiner Gesundheitskarte, einigen Kassenzetteln, einer abgestempelten Bahnkarte, die noch von der Fahrt hierher stammt. Einkaufszettel und anderes Kleinpapier geben weit mehr als nur seine Essgewohnheiten Aufschluss. Lange, bevor man Jakobs Wohnung durchsuchte, weiß jeder, der einen Blick in seine Brieftasche wirft, dass er gerne frische Milch trinkt. Dass er kein oder nur wenig Fleisch ist, dafür aber jede Menge Fisch. Dass er raucht. Dass er Mitglied in der Gewerkschaft ist. Dass er seinen Kaffee gerne in den gleichen Cafes trinkt und von dort Zehnerkarten gesammelt hat, manchmal zwei vom gleichen Cafe mit verschieden abgestempelten Feldern. Dass er Mitglied einer Singlebörse im Internet ist. Dass er sich gern erinnert, wie einige Fotos beweisen. Es ist nicht leicht zu erkennen, wer er ist; die Fotos sind alt, alle waren gerade eben Anfang Zwanzig, als sie entstanden sind, aber, man kann ihn erkennen.

Sein Profil wird in kürzester Zeit erstellt. Studienkollegen, alte Freunde, dann Feinde, schließlich. Aber herauszufinden, warum die letzten vierundzwanzig Stunden geschehen sind, das wird ihnen schwerer fallen – Zeit, die Jakob bleibt.