Im Keller gehen die Uhren anders – „Woyzeck“ im Haus der kleinen Künste // hwmüller

Nach der Aufführung macht ein Lektüreschlüssel für Gymnasiasten die Runde im Publikum. Jemand hat ihn mitgenommen, um auf der Fahrt flüchtig aufzufrischen, was aus der Schulzeit nur noch dunkel in seinem Kopf herumdämmerte. „Woyzeck“, das ist offensichtlich Pflicht, das gehört zur Bildung, das darf, kann oder will man nicht ohne Vorkenntnisse genießen. Wenn eine Inszenierung mit bildungsbedingten Erwartungshaltungen spielen will, hat sie es leicht, will sie aber eine ganz eigene Version der Geschichte vermitteln, dann hat sie es schwer, denn die Wahrnehmung des Publikums ist von einer diffusen Mischung aus Textkenntnis und Interpretations-Fremdanleihen vorbelastet. Allein schon die bei jeder „Woyzeck“-Aufführung unterschiedliche Auswahl und Anordnung der Szenen stellt ja die Zuschauer vor die große Herausforderung, all das zu vergessen, was sie gelesen haben, was aber hier nicht gespielt wird – sonst wird man der jeweiligen Version nicht gerecht.

Bei hwmüller muss man nicht nur das vergessen, was nicht gespielt wird, sondern muss auch bei Einigem, was gesprochen wird, so tun, als hätte man es noch nie gehört, denn er stellt zahlreiche Texte in einen neuen Zusammenhang, legt ihn anderen Figuren in den Mund. Figuren gibt es nur drei, und diese Reduktion sorgt für Klarheit: Da ist die Autorität, Hauptmann und Arzt in einer Person, da ist der Untergebene Woyzeck, der der Autorität dienen muss, und da ist eine Frau, Marie, die sich auf beide erotisch einlässt. Am Ende tötet der Untergebene die Frau, vielleicht aus Eifersucht, vielleicht als Opfer im Dienste einer imaginären Mission. Während in Büchners Fragment ein Patchwork angerissener Szenen, gestreifter Orte und episodisch auftauchender Figuren ein Milieu andeutet, welches das Handeln der Figuren determiniert, bleibt hier die ganze Widersprüchlichkeit in den drei Figuren hängen, müssen sie ihre Motivation aus sich selbst heraus finden. Das überzeugt. Zwar weiß man nicht so recht, um welche Autorität es eigentlich geht und in welcher Art von Abhängigkeit Woyzeck sich befindet. Aber wo die gesellschaftlichen Umstände im Dunkeln bleiben, springt die Atmosphäre des Kellerraums (ungewollt?) ein: Drei Menschen bilden in einem staubigen Bunker wie Überlebende einer Katastrophe eine Miniatur-Gesellschaft, in der bestimmte Rollen eben verteilt werden müssen.

Durch die Reduktion der Figuren zu einem kompakten Dreieck gewinnt vor allem Marie ein neues Profil: Nicht aus sexueller Gier nach einem smarten geerdeten Burschen wird sie dem vergeistigten Woyzeck untreu, sondern aus Berechnung und Mangel an Alternativen gibt sie sich dem (kaum weniger realitätsfernen) Hauptmann, dem Vertreter der Macht hin. Und Woyzeck sieht alles, von Anfang an, mal schweigend, mal protestierend. Die räumliche Verdichtung ermöglicht beklemmende, stimmige Bilder. Keine Orts- und Zeitsprünge helfen den dreien, sich voreinander zu verstecken. Hier kann sich niemand aus der Verantwortung ziehen.

Ebenso wenig wie die Figuren kann sich allerdings die Technik in einem intimen Raum wie dem Keller der kleinen Künste verstecken. So wunderbar sich die Aufführung atmosphärisch in den tristen Bunker einfügt, so ungeschickt geht der Regisseur mit diesem Problem um, wenn er gut sichtbar am Technikpult die Aufführung steuert. Das Leuchten des Laptops stört gewaltig, und wenn es Lichtwechsel oder Toneinspielungen gibt, sieht man das seinem gespannten Gesicht immer schon eine Minute vorher an. Dann kommt der jeweilige Effekt tatsächlich – und wirkt erzwungen. Entweder man hat die Möglichkeiten, solche Effekte von Geisterhand geschehen zu lassen, oder es muss eben ohne gehen.

Aber Klänge spielen eben eine wichtige Rolle für die Inszenierung. Immer wieder ist ein Uhrticken, ein Pulsschlag zu hören, mal stur, später beschleunigend. Woyzeck als der Eifrige, Gehetzte steht dem apathischen, vor dem Vergehen der Zeit die Augen verschließenden Hauptmann gegenüber. Das Stethoskop, mit dem er Woyzecks inneren Rhythmus abhört, wird zum Symbol der Kontrolle und entfaltet als solches im rätselhaften Schlussbild von Maries Ermordung ergreifend dämonische Wirkung. Leider vertraut hwmüller seinem klugen Prinzip der Reduktion nicht genug, wenn es darum geht, den Umgang mit der Zeit wirklich zum thematischen Zentrum zu machen. Dafür schleppt die Fassung noch zu viel Büchner-Text mit, die sie gar nicht bräuchte (insbesondere die völlig aus dem Zusammenhang genommenen Lieder, deren Vortrag ebenso sinnlos wie peinlich ist). Das hätte man noch schärfen können.

Mehr Schärfe wäre auch in der schauspielerischen Umsetzung schön gewesen. Sowohl Julius Maria Dattenberger als Woyzeck wie auch Wolfgang Jelend als sein männlicher Widerpart wählen als Grundhaltung unterschiedliche Ausprägungen von Lethargie – und wie immer ist es ein Balanceakt, aus einer lethargisch-sedierten nicht eine langweilige Figur werden zu lassen. Dattenberger schnuddelt sich so geistesabwesend durch seinen Text, dass man wenig versteht und mehr Lustlosigkeit als Verstörung wahrnimmt, und Jelends wunderbar monotone Melancholie schlägt ab und zu in schauspielerische Schläfrigkeit um. Ein gelungenes Gegengewicht bildet die jederzeit wache Marie von Caroline Ruske: Sie strahlt eine den Verhältnissen trotzende, lächelnde Hinterlist aus, während ihr die Momente von Zweifel und Reue weniger glaubhaft gelingen.

Alles in allem ein kluges Konzept, das aber eine radikalere und gründlichere Ausführung vertragen könnte, damit man besser versteht, worum es eigentlich geht. Der Blick in den Lektüreschlüssel kann das nicht ersetzen – zum Glück.


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