Im Gehirn gibt es keine Gedanken

Von Stevenblack

Guten Abend, liebe Freunde, ich möchte euch dieses äußerst kluge und intelligent geführte Interview vorstellen, daß gewiss die eine oder andere “Frucht” in euren Köpfen wachsen lassen wird. Es werden dort viele Ideen und Vermutungen, die ich bereits in Artikeln untergebracht habe, bezüglich des Denkens und Vorgänge des Bewusstseins angesprochen und bestätigt.  Und ich denke, dieses Büchlein des Autors Wenke, wird demnächst “besorgt” werden ..

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IM GEHIRN GIBT ES KEINE GEDANKEN

Kritik des Reduktionismus und naiven Biologismus
Interview mit Matthias Wenke

psychophysik.com: In einer YAHOO-Forums-Diskussion fand ich kürzlich die Frage »Wo ist im Gehirn das Bewusstsein und das Unterbewusstsein?« Beim Grübeln kam ich zu weiteren Fragen mit ähnlicher Logik: Wo genau fließt das Blut in einem Kriminalroman? Finde ich es, wenn ich die Druckerschwärze unter einem Rasterelektronenmikroskop betrachte? Oder: Wo auf den Platinen meines Fernsehers befindet sich jeden Abend um 20 Uhr der Sprecher oder die Sprecherin der ARD-Tagesschau? Herr Wenke, können Sie mir helfen?

Matthias Wenke: Das sind im Grunde Fragen, wie sie Vorschulkinder stellen, wenn sie z. B. einen Menschen lesen sehen, der dabei lacht. Sie suchen in den schwarzen Flecken auf dem Papier etwas Lustiges, verstehen aber nicht die Bedeutung der Flecken als Zeichen. Man sollte hier der Einfachheit halber die Bedeutung vom Bedeutungsträger unterscheiden oder, wenn Sie so wollen, die Information vom Medium – auch wenn das ein Kunstgriff ist, der nicht ganz stimmt. Aber so sieht man, dass solche Fragen eigentlich sprachliche Missverständnisse sind. Etwa so, als würde einer nach den Abmessungen eines Gedankens fragen.

Matthias Wenke
Im Gehirn gibt es keine Gedanken
Kritik des Reduktionismus
Der Universalanspruch naturwissenschaftlichen Denkens auf dem Prüfstand.
Kurzbeschreibung
Leseprobe aus der Einleitung
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Homepage Matthias Wenke

psychophysik.com: Die von mir hier überspitzt dargestellte Logik findet sich allerdings auch – intellektuell verpackt – im naiven Biologismus, der z. B. Gefühle mit neuronalen bzw. biochemischen Prozessen gleichsetzt.

Matthias Wenke: Ja, genau das ist meine zentrale Kritik an einem derartigen Biologismus. Er unterstellt z. B. dem Denken und Fühlen rein instrumentelle Hilfsfunktionen für das „Überleben“. Letzten Endes werden psychosoziale Sinnprobleme zu Hirnstörungen umdefiniert und die Leute zu bioneuronalen Mechanismen entmündigt. So ein Weltbild vernichtet praktisch das ganze menschliche Seelenleben und versucht, es mit ein paar von seinen physiologischen Korrelaten gleichzusetzen.

Dahinter steht ein verkrüppeltes Verständnis der Menschen. Erleben, Sinn, Wünsche, Ziele, Motive, Bewusstsein, Liebe oder womöglich Würde lassen sich naturwissenschaftlich ja gar nicht finden, wenn man nicht immer schon aus innerer Erfahrung weiß, was sie bedeuten. Das liegt daran, dass Naturwissenschaften die falschen Werkzeuge mitbringen und aus der falschen Perspektive an die Sache herangehen. Ein Kind hört nicht auf, ein Kind zu sein, nur weil einige Menschen es sich aus Molekülen zusammengebaut vorstellen, nicht wahr? Und doch behaupten manche Biologen bzw. Hirnforscher, die sinnhafte Welt menschlicher Erfahrung sei eine „bloß subjektive“ Illusion und „in Wahrheit“ gäbe es nur neuronales Geflackere, konkurrierende Gene oder so was.

Dabei scheinen diese Wissenschaftler merkwürdigerweise niemals ihre eigene Sinnwelt zu meinen, in der sie Wissenschaft betreiben, Interviews geben und Bücher schreiben. Das erinnert an einen Fisch, der nicht versteht, was mit dem „Wasser“ gemeint ist, in dem er angeblich schwimmen soll. Die menschliche Wahrnehmung ist so auf das Erkennen von Objekten und Bildern konditioniert, dass wir – auch Wissenschaftler – gerne übersehen, dass es Bewusstsein als eigene Dimension überhaupt gibt. Es wundert übrigens auch den Dalai Lama in seiner Auseinandersetzung mit westlicher Psychologie, dass diese keine Vorstellung einer Bewusstseinsebene kennt, auf der die mentalen Phänomene wahrgenommen werden (Dalai Lama. Die Welt in einem einzigen Atom. S.194).

psychophysik.com: Aber entsteht menschliches Denken denn nicht im Gehirn?

Matthias Wenke: Wenn man das so formuliert, macht man es sich zu einfach. Erstens sind Gedanken selbst schon Figuren im Bewusstseinshorizont, zweitens gehört zum Denken immer der ganze Mensch mit seinem Körper, seiner ganzen zwischenmenschlichen und kulturellen Lebenserfahrung, in der Sprache der Gesellschaft. D. h. Sprache und Kultur sind sozusagen das Wasser, in dem er schwimmt. Und drittens kann man Gedanken nicht wie Gegenstände behandeln, es sind bewegte, innere Veränderungen oder absichtsvolle Probehandlungen. Nehmen Sie zum Beispiel das Titelbild meines Buches, das vom westfälischen Grafiker Jochen Kublik stammt:

Da sehen Sie eine aufgeknackte Walnussschale und darin ein Gehirn. Kann man dort etwa Gedanken finden, wenn man es aufschneidet? Das ist wirklich absurd und so unsinnig, als wolle man den Tagesschausprecher in den Schaltkreisen des Fernsehers suchen. Gedanken kann man immer nur auf eine einzige Weise als solche erfahren, nämlich indem man sie selbst denkt oder über sie meditiert. Dasselbe gilt für Gefühle und sämtliche anderen Erfahrungen. Es sind immer unzerlegbare Eigenerlebnisse des Individuums, eingebunden in die von ihm erfahrene Welt.

psychophysik.com: Mit anderen Worten: Ein Gefühl ist ein Gefühl. Neuronales Flackern im Gehirn ist neuronales Flackern im Gehirn? Neuronales Flackern im Gehirn ist jedoch selbst kein Gefühl.

Matthias Wenke: Genau, das wäre die Vermischung zweier völlig verschiedener Perspektiven, auch wenn sie miteinander zusammenhängen. Glauben Sie, dass jemand durch die Messung von Kehlkopfbewegungen den Sinn eines gesprochenen Wortes entdecken kann? Warum fixiert man sich überhaupt so auf das Gehirn? Neben ganz praktischen z. B. medizinischen oder manipulativen Zielen spielt hier eine starke und archaische Mystifizierung dieses Organs mit.

Es ist eine hochgradig kulturelle Annahme, so etwas wie unser „Ich“ sitze, wie ein Gegenstand (oder womöglich wie ein Mikrochip) ausgerechnet im Gehirn. Genauso gut könnte man den Dickdarm analysieren, dessen neuronales Gewebe z. B. ähnlich komplex ist, wie das des Gehirns. In vielen asiatischen Traditionen verortet man die Seele im Bauch oder im Atem. Haben Sie schon einmal sich selbst in Ihrem Gehirn gefühlt? Wo zeigen Sie hin, wenn Sie sagen „Ich“? Auf das Herz, oder? Auch das Herz gilt in vielen Traditionen als Seelenort. Aber wenn wir auf unsere Stirn tippen, meinen wir meistens: „der spinnt“.

psychophysik.com: Gut, das sind vielleicht einfach Gewohnheiten. Was Sie sagen, fordert die Frage heraus: Wer ist eigentlich derjenige, der denkt, fühlt und handelt? Bin ich etwas anderes als mein Gehirn?

Matthias Wenke: Was für eine Frage. Natürlich! Das Gehirn ist nur ein Teil von einem Menschen, und man darf aus diesem einzelnen Organ nun nicht das „eigentliche“ Subjekt machen, wie es leider einige Hirnforscher in ihren Publikationen suggerieren. Thomas Fuchs von der Phänomenologischen Sektion der Psychiatrischen Uniklinik Heidelberg hat in einem Artikel brilliant gezeigt, dass mit dieser Selbstverdinglichung „das Gehirn nicht nur die Leerstelle des Subjektes [einnimmt], sondern letztlich die Leerstelle Gottes. (…). Die neurobiologische Anti-Metaphysik schlägt um in eine krypto-religiöse Metaphysik – einen ‚Glauben an das Gehirn‘“ (Fuchs „Neuromythologien“, S. 17 in Gehirn & Geist am 02.01.2007).

So etwas gleicht der magischen Überhöhung eines Fetischs, die den klaren Blick auf die Sache vernebelt. Dasselbe gilt übrigens für einen mystifizierten Modebegriff vom „Unbewussten“. Das Organ des Denkens, Fühlens und Handelns ist aber immer der vollständige und beseelte menschliche Leib. Und auch an jedem Gedanken ist der ganze leibhaftige Mensch beteiligt.

psychophysik.com: Demnach ist Denken und Fühlen nichts grundsätzlich anderes als Gehen oder Atmen? Aber es gibt doch so etwas wie Bewusstsein, wir sind ja nicht bewusstlose Maschinen, denn wir erleben, dass wir existieren. Sind wir also Körper und Ich in einem, und das Bewusstsein ist überall und nirgends?

Matthias Wenke: So könnte man es sagen. Wir sind praktisch ein „sehender Leib“, wie der französische Phänomenologe Maurice Merleau-Ponty sagt. Das Wichtigste ist, zu verstehen, dass unser Bewusstsein kein kleines Männchen im Gehirn und überhaupt kein Ding in der Welt ist sondern der seelische Raum, in dem sich die Welt mit ihren Dingen überhaupt erst ereignen kann. Das Bewusstsein in diesem Sinne ist der unendliche Horizont aller unserer Erfahrungen, wirklich aller, auch von uns selbst, z. B. unserem Körper. Es ist so, wie Plessner schreibt: „Nicht das Bewusstsein ist im Körper, sondern der ‘Körper’ ist im Bewusstsein“. Sie erfahren sich selbst, Ihre Gedanken, Gefühle, Sinne, Mitmenschen und die ganze Welt doch immer in sich selbst – wo auch sonst? Wo ist denn die Vorstellung von sich selbst und überhaupt alle Vorstellungen? An dieser Einsicht führt kein Weg vorbei: Alles, was Sie erleben, ist immer in Ihrem Erlebenshorizont, also in Ihrem Bewusstsein. Das ist ganz leibhaftig erfahrbar.

psychophysik.com: Wenn ich das richtig verstehe, vertreten Sie damit eine Art philosophischen Idealismus, also das Gegenteil zum Materialismus. Alles ist Idee, alles ist bloße Vorstellung, es gibt nur Geist?

Matthias Wenke: Nein, das ist ein Missverständnis und eine Sackgasse. Keine von den beiden genannten Philosophien kann die Welt verstehen, auch der Materialismus nicht. Beides entspricht auch nicht unserer wirklichen Erfahrung. Wir erleben die Welt als ausgedehnt und unbekannt. Wäre die Welt nur unser eigenes Hirngespinst, so könnten wir nichts Neues darin entdecken. Dann würden wir ja schon jeden Winkel kennen und alles wissen. Wäre alles nur Materie, gäbe es niemanden, der sie erlebt und dem Ganzen Bedeutung gibt. Wir stehen mitten in der Welt und doch wird sie erst durch uns möglich. Welt und Subjekt sind untrennbar aufeinander angewiesen.

psychophysik.com: Das ist schwer nachvollziehbar. Andere Menschen sterben und wir leben weiter in der gleichen Welt. Wenn ich nicht mehr da bin, bleibt die Welt doch bestehen!?

Matthias Wenke: Wessen Welt meinen Sie? Sie denken bei dieser Annahme ganz automatisch immer einen Beobachter mit, der die Welt und Sie sieht, quasi aus einer Vogelperspektive. Aber wo ist diese Perspektive und wo der gedachte Beobachter, wenn Sie beides nicht mehr denken? Es gibt ein literarisches Zitat, ich weiß leider nicht von wem, aber es lautet sinngemäß: „Wenn ein Mensch stirbt, stirbt eine ganze Welt.“ Umgekehrt gilt: Die Welt erwacht in jedem Bewusstsein aufs Neue. Ich glaube, Merleau-Pontys Begriffspaar von Sehendem und Gesehenem ist hier zentral. Wir sind Sehende, die dem Gesehenen erst seine Bedeutung geben. Ohne uns hat es nämlich keine.

Ganz konkret: Ein Trinkglas hat für mich die Bedeutung von etwas mit Getränken Befüllbarem, das für die Verwendung mit meinem Mund gemacht ist. Es erhält seinen Sinn aus meinen leibhaftigen Erfahrungen mit ihm, nicht aus dem Denken. Für eine Ameise (in meiner Vorstellung) ist dieser mit Flüssigkeit gefüllte Hohlraum unter Umständen ein gefährlicher See, hat also eine völlig andere Bedeutung. Wo aber soll jetzt so etwas wie das „objektive“ Glas sein? Wir sehen: Alles Erfahrene bekommt nur durch einen Jemand, der es in einer bestimmten Weise erfährt, Bedeutung. Und welche Bedeutung kann etwas haben, das niemand erlebt? …

psychophysik.com: In einem Artikel der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zitiert Ulf von Rauchhaupt den französischen Physiker und Philosophen Bernard d’Espagnat mit den Worten: „Was wir wahrnehmen, mit was für einem apparativen Aufwand auch immer, gibt es ohne uns und unsere Apparate nicht. Zur Realität als solche schweigt die Physik“ („Die Realität ist nicht in den Dingen“, 02.03.08, Nr. 9, Seite 69). Zunächst schwer verdaulich, da d’Espagnats Aussage unserer Alltagsvorstellung diametral widerspricht.

Matthias Wenke: Da steckt auch die Einsicht drin: Erst wir unterschieben der Welt mit unserem Handeln den Sinn, den wir brauchen oder der zu uns passt, quasi als komplementäres Relief unserer Handlungen und absichtsvollen Wahrnehmungen. Das gilt selbstverständlich für jedes Handwerk also auch für die Naturwissenschaft. Insofern hat d´Espagnat recht, wenn er feststellt, dass wir die physikalische Welt – Schallwellen, Atome usw. – erst im Labor mit Apparaten erzeugen. Sein von Ihnen an anderer Stelle zitiertes Bild vom Regenbogen, der immer nur bezogen auf den jeweiligen Betrachter an verschiedenen Orten existiert, passt hier ziemlich gut.

Ohne diesen Menschen, der den Regenbogen an genau seiner Position erlebt, gäbe es ihn gar nicht. Er wird erst möglich durch die Verbindung von Augen, Regen und Licht. Ohne sehende Augen fehlt dem Phänomen Regenbogen damit seine Existenzbasis. Und das gilt eben auch für die ganze restliche Welt, die wir erfahren. Ohne Subjekt keine Welt. Allerdings sind uns viele Vorstellungen von der Welt so geläufig, dass wir sie für wirkliche Dinge oder sogar direkte Erfahrungen halten. Doch wir müssen lernen, unsere Wahrnehmungen von unseren Vorstellungen zu unterscheiden. Auch das bedeutet Phänomenologie: Die Dinge so zu nehmen lernen, wie sie auftauchen und sie nicht mit unseren Gedanken über sie zu verwechseln. Die Phänomene, wie sie dem Bewusstsein erscheinen sind die wirkliche Welt, eine andere gibt es nicht.

psychophysik.com: Was heißt das konkret? Meinen Sie, dass wir unser menschliches Erleben grundsätzlich nicht auf physikalische Begriffe herunterbrechen können?

Matthias Wenke: So ist es. Es wäre selbstentfremdend, unsinnig und teilweise auch gefährlich, weil wir damit zugleich unsere eigene Bedeutungswelt eliminieren würden. Sie hören die schöne Stimme eines geliebten Menschen und nicht Schallwellen. Sie spüren ganz konkrete, sinnvolle Gefühle und nicht irgendwelche Hormone. Sie essen leckeren Salat, dessen Farbe Sie erfreut, und nicht Molekülmischungen, oder? Schon dass wir vielleicht denken: „Da stecken aber doch Moleküle drin!“ zeigt, wie besessen wir vom Reduktionismus sind und vergessen haben, dass Moleküle von uns selbst gemachte Hilfskonstrukte sind, die nur im Labor Sinn machen.

psychophysik.com: So, wie die Kenntnis der Schaltkreise des Fernsehers nur für einen Servicetechniker von Interesse ist? Der Nutzer möchte einfach das Programm sehen und hören.

Matthias Wenke: So in etwa. Eine sehr wichtige Einschränkung bei diesem etwas hinkenden Vergleich ist aber die Tatsache, dass die Welt keine von irgendjemandem aus Bauteilen zusammengesetzte Maschine ist. Um es mal plakativ darzustellen: Wenn ich einen großen Baum in 100 Scheiben zersäge, würde ich wohl kaum annehmen, dass Bäume „in Wirklichkeit“ oder „eigentlich“ nur Scheiben sind. Aber wir tun genau das mit Molekülen, Neuronen oder Genen und stellen damit die Wirklichkeit komplett auf den Kopf. Der ganze Baum ist zuerst da und nicht die Scheiben, der Mensch lange vor seiner Wissenschaft.

Der Wissenschaftsphilosoph Peter Janich greift in seinen Büchern auf ein wunderbares Beispiel von Hugo Dingler zurück, das deutlich macht, was gemeint ist: Wenn ich eine bemalte Holzfigur vor mir habe, so ist vollkommen klar, dass sie zuerst geschnitzt worden sein muss, bevor sie bemalt werden konnte. Janich nennt dies das „Prinzip der Methodischen Ordung“ und kritisiert, dass die Naturwissenschaften eben dieses verletzen würden, weil sie ihre eigenen Ergebnisse an den Anfang stellen, die doch in Wahrheit erst am Ende stehen. So versuchen sie immer wieder Bewusstsein aus Materie abzuleiten und übersehen, dass Bewusstein schon da sein muss, um so etwas wie Materie überhaupt zu denken. Materie ist also selbst ein Produkt des Bewusstseins, wenn Sie so wollen.

psychophysik.com: Das klingt auf den ersten Blick unglaublich, wird aber langsam plausibel. Ich möchte deshalb noch einmal auf Ihre oben in den Raum gestellte Frage „Welche Bedeutung hat etwas, das niemand erlebt oder erlebt hat?“ zurückkommen. Ganz konkret: Ist der Mond noch da, wenn ich nicht hinsehe?

Matthias Wenke: Natürlich ist das für das Alltagsbewusstsein überhaupt keine relevante Frage. Aber in der Tat, es ist wirklich so: Der Mond ist nicht da, wenn ihn keiner sieht. Schon im Moment des Wegsehens ist er nicht mehr als aktuell Gegebenes in unserem Erlebenshorizont vorhanden, denn wir sehen ihn ja nicht mehr. Was vielleicht vorhanden ist, sind innere Bilder die mit dem Begriff „Mond“ verknüpft sind und uns seine dauerhafte Existenz unterstellen lassen. Wenn wir wieder hinsehen, finden wir dies wohl in den allermeisten Fällen bestätigt, aber es ist nicht zwingend notwendig.

Allein unser Bewusstsein erzeugt die Vorstellung von Kontinuität wie auch den Zeitstrom, der dazu gehört. Es füllt sozusagen die Lücken der Erfahrung mit Phantasie, mit einem verallgemeinerten, bloß noch gedachten „Mond“. Und wenn wir hier im Interview vom „Mond“ reden, so ist er weder mir noch Ihnen wirklich gegeben, sondern wir sprechen von dieser Abstraktion. Denn welchen Mond meinen Sie genau? Den roten, gelben, weißen, silbernen, den halben, vollen oder den sichelförmigen Mond? Mit oder ohne Wolken? Groß oder klein? Steht er hoch oder tief am Horizont? Wir sehen: Der Mond „allgemein“ existiert nicht wirklich, es gibt immer nur konkrete einzelne Monderfahrungen.

psychophysik.com: Haben Sie noch ein anderes Beispiel?

Matthias Wenke: Stellen Sie sich vor, Ihr Leben lang spendet die Erinnerung an das Haus Ihrer Kindheit Ihnen Trost und Ihr ganzes Selbstverständnis leitet sich entscheidend daraus ab. Dann fahren Sie irgendwann einmal in diesen Ort Ihrer Vergangenheit und entdecken erschrocken, dass das Haus seit Jahrzehnten abgerissen ist. Was war nun wirklich im Sinne von wirk-sam?

psychophysik.com: Man könnte jetzt sagen: Dann habe ich mich eben geirrt. Meine Vorstellung war einfach falsch. Sie stimmte nicht mit der Realität überein. In Wirklichkeit hat sich der Ort geändert. Nur ich habe es nicht beobachtet.

Matthias Wenke: An diesem Punkt muss man sehr genau hinsehen. Was denken Sie, wenn Sie sagen „in Wirklichkeit“? Sie denken sich sebst als Beobachter hinzu, der den Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt erlebt und frieren dieses innere Bild dann als real ein. Aber es gibt ohne den Beobachter gar keinen objektiven Ort, und vor Ihrer Reise war dies Haus noch in alter Pracht in Ihrer Welt wirksam vorhanden. Die Vorstellung einer objektiven Realität ist ein Kunstgriff, der den Beobachter aus dem Bild streicht. Er macht aus einem subjektiven Erlebnis einen objektiven Gegenstand für einen anonymisierten Beobachter. Aber auch diese objektive Wirklichkeit ist immer nur aus der Erfahrung von Subjekten gemacht.

psychophysik.com: Das heißt, „Objektivität“ wäre so gesehen nur eine Verallgemeinerung verschiedener subjektiver Erfahrungen. Was tun denn dann die Wissenschaften?

Matthias Wenke: Es gibt zwar keine beobachterunabhängige Welt, aber doch eine menschlich gemeinsame Weise der Erfahrung. Und Wissenschaft ist der Versuch, für Menschen praktisches Erfahrungswissen zu sammeln, zu verallgemeinern, zu abstrahieren und zu formalisieren. Dass das dann angeblich „universale Naturgesetze“ seien ist natürlich ein Irrtum. Es handelt sich eigentlich um Reproduktionsregeln für bestimmte technische Laborerfahrungen.

psychophysik.com: Also wäre die vermeintlich absolute „physikalische Realität“ eine relative „Realitätssicht von Physikerinnen und Physikern“?

Matthias Wenke: Ja, das ist prägnant. Ich glaube, man kann bündig sagen: Alles, was wirkt, ist wirklich. Man muss sich einmal vor Augen führen, dass praktisch unser gesamtes Leben auf Verallgemeinerungen, Unterstellungen, Vorstellungen, inneren Bildern, Annahmen und gegenseitigen Erwartungen aufbaut, die wir niemals überprüft haben oder hinterfragen werden. Und doch funktioniert es. Nehmen wir mal das Geld. Welch ungeheure Wirkung haben wenige Quadratzentimeter Papier! Eben weil wir kollektiv den kleinen bedruckten Scheinen eine bestimmte Bedeutung unterstellen, die sie „von sich aus“ gar nicht haben. Für kleine Kinder ist das nur buntes Knitterzeug.

psychophysik.com: Sie sprechen das Phänomen an, dass alle uns vorliegenden Erkenntnisse über diese unsere Welt – darunter beispielsweise auch die Daten von technischen Messgeräten – in letzter Konsequenz von einem menschlichen Beobachter geistig – in seinem Bewusstsein – wahrgenommen und verarbeitet werden. Unterstelle ich einmal, das „alles was ist“ in einer ersten Stufe zunächst „nur“ in der Wahrnehmung – im Bewusstsein – eines beobachtenden Menschen stattfindet, dann ist mir allerdings noch nicht klar, wie Sie – und auch d’Espagnat – in einem nächsten Schritt die Existenz einer Welt außerhalb der menschlichen Wahrnehmung ausschließen können. Was spricht gegen einen physikalischen Realismus, wonach alle menschlichen Beoachtungen durchaus auf der Bewusstseinsebene eines Menschen stattfinden … darüber hinaus jedoch auch in unserer „äußeren Welt“ existieren? Vielleicht kann man die Frage auch als in letzter Konsequenz nicht beantwortbar offen lassen, da es uns unmöglich ist, die Welt NICHT durch unser Bewusstsein wahrzunehmen.

Matthias Wenke: Eben. Ansonsten müsste es ja auch zwei Welten geben, eine im Bewusstsein und eine außerhalb, und das ist nun wirklich Quatsch. Konsequent phänomenologisch gedacht kann es keine Welt außerhalb eines Bewusstseinshorizontes geben. Wie sollte irgendjemand von dieser auch erfahren können? Dann wäre sie ja wieder innerhalb des Bewusstseins. Selbst unsere Messgeräte messen nur, was wir bemerken können und was wir vorher in sie hineingesteckt haben. Wo sollte denn ein Ort sein, der jenseits des Erfahrbaren liegt?

psychophysik.com: Fledermäuse erfahren beispielsweise Ultraschall und wir nicht. Leben sie dann nicht in einer Welt jenseits unserer Erfahrung?

Matthias Wenke: Auf den ersten Blick scheint es so zu sein. Doch reden wir hier immer von menschlichen Erfahrungen von Fledermäusen. „Ultraschall“ z. B. ist ein menschliches Konzept für bestimmte Erlebnisse, die wir mit diesen Tieren machen können. Wir haben diesen Begriff geschaffen, um z. B. unsere Erfahrungen des Verhaltens dieser Tiere zu beschreiben. Wir können deren Erleben vielleicht bis zu einem gewissen Grad einfühlend nachvollziehen, bleiben dabei aber immer in unserem eigenen Bewusstseinshorizont.

Ihre Frage nach einer Welt jenseits der eigenen Erfahrung könnte man genau so gut auch für jeden beliebigen anderen Menschen stellen. Denn natürlich komme ich in dessen Erlebenshorizont so wenig „hinein“ wie in den einer Fledermaus. Wäre das so, dann wäre er ich, ganz einfach. Aber das ist kein Grund, eine zweite, dritte, vierte Welt neben der eigenen anzunehmen. Man hätte sonst so viele Welten wie Bewusstseine und noch zusätzlich die sogenannte „objektive“ aber unerfahrbare Welt dazu. Die wirkliche Welt ist aber einfach die von allen Wesen erfahrene. Und sie besteht nicht aus physikalischen Dingen sondern aus sich überschneidenden Sinnfeldern und Horizonten.

psychophysik.com: Täuscht uns denn dann unsere alltägliche Überzeugung von einer Innen- und einer Außenwelt?

Matthias Wenke: Es ist die tief verwurzelte Selbstverständlichkeit des Glaubens an die Existenz einer von uns unabhängigen äußeren Welt, die uns täuscht – und die natürlich trotzdem ihre uneingeschränkte lebenspraktische Berechtigung hat. Aber dieser quasi „naive“ Glauben ist nicht unvoreingenommen. Die Phänomenologie (und übrigens auch der neuropsychologische Konstruktivismus) kommt zu anderen Erkenntnissen, die m. E. auch prinzipiell erfahrbar bzw. nachvollziehbar sind.

Demnach ist die „Außenwelt“ selbst nur eine Ebene unseres eigenen Erlebenshorizontes, der auch nach „innen“ in unsere Selbsterfahrung hinein reicht. Wir sind es selbst, die die Grenze zwischen „innen“ und „außen“ setzen und damit unsere Leibidentität aufrecht erhalten. Manche Schizophrene oder auch Autisten können z. B. nicht zwischen sich und der Welt unterscheiden. Sie empfinden Geräusche oder Umgebungsbewegungen als Teil von sich selbst. Daran sieht man, dass diese Grenze selbst eine Erfahrung ist, nichts Gegenständliches.

psychophysik.com: Wie stehen Sie eigentlich zur Hirnforschung? Man kann ja inzwischen viele geistige oder emotionale Prozesse sehr genau im Gehirn lokalisieren. Ist damit nicht längst die Annahme eines Ortlosen Bewusstseins widerlegt?

Matthias Wenke: Keineswegs. Das ist einer der Hauptdenkfehler, die immer wieder gemacht werden. Nur weil man etwas mit irgendwelchen Apparaten „messen“ kann, glaubt man sofort, alles irgendwie „geistig“ anmutende – also das Bewusstsein – sei widerlegt. Das ist aber ziemlicher Unsinn. Phänomenologie als Wissenschaft vom Bewusstein widerspricht keinesfalls den Ergebnissen der Hirnforschung. Im Gegenteil, sie ist deren notwendiges Komplement. Hirnforschung kann ja nur quasi von „außen“, also aus der Sicht einer dritten Person, irgendwelche physiologischen Veränderungen erkennen, die sich am Leib vollziehen, wenn ein Mensch z. B. etwas Bestimmtes tut, denkt oder fühlt. Sie kann aber nicht das erlebte Tun, Denken und Fühlen als solches erfassen. So wenig, wie irgendjemand in einen fremden Bewusstseinshorizont hineinschlüpfen kann.

psychophysik.com: Das heißt, alle diese bunten Gehirnscans z. B. können bestenfalls Korrelate zu Bewusstseinserfahrungen zeigen, nicht diese Erfahrungen selbst?

Matthias Wenke: Und erst recht nicht das Bewusstsein als solches. Ohne das Erleben des Erforschten aber, also ohne sein Bewusstsein erster Person wäre die ganze Angelegenheit völlig witzlos – und die Messdaten hätten buchstäblich keine Bedeutung. Sie wären inhaltlich leer. Hinzu kommt, dass die Messungen auch wieder nur im Bewusstsein des Forschers Bedeutung haben. Wir können das Bewusstsein also nicht einfach als „Ding“ in das Gehirn hineinpacken wie in einen Kasten.

Merleau-Ponty stellt eine entscheidende Frage, die uns immer wieder zum Kern des Problems bringt: „Wo innerhalb des Leibes soll der Sehende angesiedelt werden, wo es doch offensichtlich im Leib nur ‚eine mit Organen angefüllte Finsternis‘, also selbst wiederum Sichtbares, gibt?“ (Merleau-Ponty 1986, 181). Wir kommen einfach nicht um den „sehenden Leib“ herum, wenn wir nicht in die überholte Spaltung von Geist und Materie zurück fallen wollen.

psychophysik.com: Das ist interessant. Das wäre so wie auf Ihrem Titelbild. Im Körper wie im Gehirn findet man von „außen“ gesehen nur dunkle Masse, aber keinen Bewusstseinshorizont und keine Gedanken. Man geht am eigentlich interessierenden Phänomen auf diese Weise also systematisch vorbei. Und direkt vor der Nase übersieht der Forscher sein eigenes Bewusstsein. Ist es dieser prinzipielle Einwand, den Sie gegen die einseitige Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden auf anthropologische, psychologische, kulturelle und philosophische Probleme erheben?

Matthias Wenke: Ganz genau. Ein klassisch naturwissenschaftliches Weltbild setzt schon an den Anfang jeder Untersuchung von Leben die Unterstellung, dass es nichts anderes als tote Materie gebe. Es gibt also von vornherein gar keinen Platz für ein erlebendes Subjekt bzw. fühlendes Bewusstsein im Zentrum aller messbaren Prozesse. Diese Methoden sind überhaupt nicht ergebnisoffen sondern von Anfang an verengt. An das Sein kommen wir so nicht heran.

Die Welt ist aber immer bereits da. Das Sein umgibt uns jeden Tag. Wir leben mittendrin und können es intensiv erfahren. Unser Bewusstsein ist das Wunder: die Welt, die sich selbst erlebt. Und eine Spaltung in „innere“ und „äußere“ Welt, wie Sie es vorhin für einen physikalischen Realismus vorgeschlagen haben, setzt immer zugleich die Spaltung der Welt in Geist und Materie voraus. Denn zumindest der Physiker muss für sich selbst Bewusstsein beanspruchen.

Doch das passt überhaupt nicht mit einem solchen Realismus zusammen, denn der setzt ja gerade das Gegenteil voraus. Nämlich, dass im ganzen Sein nichts als Materie vorkommt. Und damit wären wir wieder beim Haupteinwand gegen den Materialismus: Es gibt niemanden, der Physik betreibt. Es gibt kein erlebendes Subjekt. Ich glaube allerdings, dass sehr viele zeitgenössische Wissenschaftler, beispielsweise Vertreter des Konstruktivismus, heute schon viel offener sind und die Welt als Bewusstseinshorizont von Phänomenen begreifen lernen und nicht mehr als physikalischen Raum, der mit diskreten Dingen gefüllt ist.

psychophysik.com: Die Phänomenologie passt gut zur aktuellen Wissenschaftsdiskussion, und es scheint spannend, sich damit auseinander zu setzen. Könnten Sie abschließend noch einmal Ihr persönliches Verständnis von Wirklichkeit zusammenfassen, das sich aus Ihren Erfahrungen und theoretischen Arbeiten ergeben hat?

Matthias Wenke: Ich selbst nehme an, dass alles, was wir in irgendeiner Weise erfahren, einfach die Wirklichkeit ist, aber eben eine phänomenale, offene und unabgeschlossene, die immer auch Unerwartetes birgt. Sie strömt in unserer eigenen Tiefe, z. B. in inneren Bildern, der Intuition oder Träumen wie auch in der Weite der Welt. Was wir für die Welt halten wird immer durch unsere Geschichte, Interessen und Ziele geformt, und es gibt niemanden, der eine „objektive“ Weltsicht haben könnte.

Das ist aber kein Relativismus! Die Wirklichkeit ist nicht beliebig. Wir konstruieren sie ja nicht wie eine Erfindung sondern erleben sie immer eingebunden in leibhaftige Situationen. Die Welt ist gewissermaßen mit Existenz durchströmt, und der lebendige Leib ist die Inkarnation bewusster Existenz. Das bedeutet, dass wir ein leibseelisches Selbst annehmen müssen, das Zeuge seines eigenen Daseins ist. Das entspricht ja auch unserer Selbsterfahrung, die z. B. vom Buddhismus auf höchstem Niveau systematisiert wurde. Das Wichtigste, um das wir uns bemühen können, ist ein wachsendes unvoreingenommenes Verständnis für uns selbst und unsere Mitmenschen, und zwar aus unseren Situationen, Zielen und Motiven heraus. Nicht als kausal determinierte Biomaschinen.

psychophysik.com: Herr Wenke, vielen Dank für dieses anregende Gespräch.

Zur Person:
Matthias Wenke M. A., Jahrgang
1965, studierte Chemie,Erzie hungswissenschaft, Psychologie,
Soziologie und Philosophie an den
Universitäten Münster, Marburg,
Köln und Hagen. Er arbeitet beim
Rundfunk, ist Yogalehrer und der-
zeit beim Alfred-Adler-Institut in
Weiterbildung zum Individualpsy-
chologischen Berater und Super-
visor. Weitere Veröffentlichungen:
z. B. 2006 „ADHS: Diagnose statt
Verständnis?“ (Brandes & Apsel,
Frankfurt am Main).

Homepage von Matthias Wenke

Originalquelle dieses Interviews: http://www.psychophysik.com/html/re044-wenke-matthias.html