Ich würde gern für ein paar Stunden an den Anfang des vorigen Jahrhunderts reisen. Um durch alte Berliner Bezirke zu schlendern, um Schöneberg im Jahr 1920, Kreuzberg in den Dreißiger oder Prenzlauer Berg in den Fünfziger Jahren zu erleben. Ich würde ebenso gern im Zeitraffer all die Menschen sehen, die in den vergangenen Jahrzehnten in den von mir bewohnten Berliner Altbauzimmern gelebt haben …
Auf Zeitreisen dieser Art entführten mich die Romane In Zeiten des abnehmenden Lichts und Ab jetzt ist Ruhe von Eugen Ruge und Marion Brasch. Doch da mein Hunger nach Geschichten mit historischem Fokus nie endet, habe ich aktuell mit den Romanen Der Apfelbaum und Was aus uns geworden ist zwei neue Lieblingsbücher. Beide könnten unterschiedlicher kaum sein. Gleichzeitig aber verbindet sie so viel, spielen sie doch ganz oder teilweise im historischen Berlin. Beide Autoren erzählen die Geschichten ihrer jüdischen Eltern oder eines jüdischen Elternteils. Doch während Christian Berkels Roman die Geschichte einer großen Liebe ist, geht es bei André Herzberg um sechs in der DDR geborene Menschen und deren Suche nach Identität. In Jakob – eine der Romanfiguren – glaube ich, den Autor selbst zu erkennen.
Christian Berkel beginnt seinen Roman im tiefsten Kreuzberg. 3. Hinterhof. Arbeitermilieu. Es ist das Jahr 1915. Hier wird Otto geboren. Er ist 17 Jahre alt, als er sich 1932 in das jüdische Mädchen Sala verliebt. Sala lebt mit ihrem intellektuellen Vater in einer wohlhabenden Berliner Villengegend. Es ist zuerst die große Bibliothek, welche Otto sofort fasziniert. Ziemlich schnell verzaubert ihn aber auch dieses 13-jährige kluge Mädchen.
1938 aber muss Sala nach Paris fliehen, Otto geht als Sanitäter der Wehrmacht in den Krieg. Für sehr viele Jahre sind beide auseinander gerissen, wissen nichts voneinander, bis sie sich 1950 im zerstörten Berlin wieder begegnen und sich neu verlieben.
Der Roman von André Herzberg setzt genau hier ein: im zerstörten Berlin der Nachkriegszeit. Herzberg erzählt die Geschichten von sechs Menschen mit jüdischen Eltern in der DDR. In der Literatur ein bisher kaum behandeltes Thema. Da ich selbst im Ostteil Berlins geboren und aufgewachsen bin, stellen sich mir sofort viele Fragen. Was bedeutete es, in der DDR, jüdisch zu sein? Wieso haben viele Menschen ihre jüdische Identität versteckt? Weshalb war die DDR-Regierung Israel gegenüber nicht freundlich gestimmt? Warum wurden vorrangig kommunistische und nicht jüdische Widerstandskämpfer geehrt?
Glücklicherweise hatte ich viel Zeit für Was aus uns geworden ist. Denn man muss wirklich dran bleiben an der Story, um den Überblick zu behalten. Herzberg erzählt zwar chronologisch – er beginnt mit dem Kriegsende und endet in der Jetzt-Zeit – doch seine sechs Figuren, deren Familien und Freunde kommen nur in jedem sechsten Kapitel (betitelt mit Richard, Jakob, Eike …) zu Wort. Unzählige Bilder und Geschichten strömen auf mich ein und ergeben ein extrem spannendes Mosaik mit vielen berührenden Momentaufnahmen. Anfangs ließ ich diese Eindrücke einfach auf mich zuströmen. Doch manchmal fehlte mir nach sechs Kapiteln dann die Verbindung zur Figur und ich musste im Text zurück gehen – wer war nochmal Jakob oder Eike oder Anton? Tatsächlich hätte ich mir gewünscht, Herzberg hätte jeder der sechs Figuren einen in sich geschlossenen Teil des Romans gegönnt.
Die Geschichte von Jakob habe ich dann schließlich komplett ein zweites Mal gelesen, indem ich von Kapitel zu Kapitel quer durch das ganze Buch gesprungen bin. Am Ende von Jakobs Geschichte habe ich Hoffnung gefunden – eine Hoffnung, die es ohne den Fall der Mauer am 09.11.1989 nicht gegeben hätte.
Insgesamt habe ich die Stimmung des Romans als melancholisch wahrgenommen. Weil Herzberg nichts beschönigt, weil er mit kritischem Blick zurück schaut auf ein Stück Alltag in der ehemaligen DDR im Osten Berlins. Mich hat das Buch sehr berührt. Ein schmerzvoller Trip in die Vergangenheit. Hier der Titelsong aus seiner gleichnamigen aktuellen CD:
Zurück zu Christian Berkel, der ebenfalls viele spannende Momente aus einer vergangenen Zeit in diese Liebesgeschichte einfließen lässt. Nicht alles ist real, manches ist erfunden. Denn sein Vater Otto ist tot, ihn kann er nicht mehr fragen und die Erinnerungen seiner Mutter Sala beginnen sich zu verwirren. Berkel nennt diese verworrenen Geschichten mit geringem Wahrheitsgehalt … magische Momentaufnahmen im Entwicklungsbad einer verlorenen Zeit (Seite 18). Ein absolut stimmiges Bild, welches auch als Beschreibung passen würde für den gesamten Roman – einem wundervollen Mix aus Phantasie, Erinnerungen, Fotos, Briefen und Tagebüchern. Ein Roman, der ein spannender Trip in das letzte Jahrhundert ist und eine Geschichte erzählt, die geprägt ist von Zerrissenheit, Trauer und Schmerz. Aber auch von Humor. Ganz großes Leseabenteuer!
André Herzberg. Was aus uns geworden ist. Ullstein Verlag. Berlin 2018. 240 Seiten. 22,- €
Christian Berkel. Der Apfelbaum. Ullstein Verlag 2018. 413 Seiten. 22,- €