Im Auge des Sturms

Von Walter

NOAA 19 northbound 58W at 24 Aug 2015 13:18:18 GMT on 137.10MHz, MSA enhancement, Normal projection, Channel A: 2 (near infrared), Channel B: 4 (thermal infrared)
(Bild: Wanderlinse, CC-Lizenz via flickr)

Dieser Herbst ist ebenso von meteorologischen wie von menschengemachten Stürmen geprägt, von Krieg und Zerstörung im Osten, vom Zerfall ganzer Gesellschaften im Süden. Nichts Neues im Osten und Süden also. Was gehen uns diese Stürme überhaupt an? Hier in Europa? Hier in der Schweiz? – Eine herbstliche Betrachtung und die Frage, wo sich das Auge des Sturms befindet.

Es ist Herbst. Zu dieser Zeit fegt der Wind für gewöhnlich das Laub von den Bäumen und lässt es über Strassen und Plätze tanzen. Doch in der Schweiz ist es ruhig. Ein milder Herbst übt Nachsicht mit uns, vielleicht damit wir vor einem strengen Winter nochmals tief Luft holen können.

Es ist ja nicht so, dass der Herbst 2015 überall Milde walten lässt. Im Gegenteil: Neben den meteorologischen Stürmen – an der Côte d’Azur etwa, in Südengland oder Norddeutschland, den heftigsten seit rund zehn Jahren –, ziehen Stürme ganz anderer Art über Länder und Kontinente und hinterlassen Spuren von Elend und Zerstörung historischen Ausmasses. Die Levante, der östliche Mittelmeerraum ist in qualvoller Auflösung begriffen. Und alle möglichen und unmöglichen «Mitspieler» tragen mit ihrem zynischen «Bomben-Jekami» (Jeder kann mitmachen) dazu bei, dass eine Lösung in weite Ferne rückt. Der Sturm in der Levante (Syrien, Irak) und die Stürme weiter östlich (Jemen, Afghanistan) treiben Millionen Flüchtlinge vor sich her, unter anderem an Europas Küsten und Mauern, als seien sie Herbstlaub, die Flüchtlinge. Doch es sind Menschen, Kinder, Frauen, die vor der unglaublichen Brutalität fanatisierter Horden und vor dem Feuersturm fliehen. Und sie vermischen sich mit Menschen aus anderen Sturmgebieten, aus anderen Gebieten menschengemachter Katastrophen. Weite Teile Afrikas tragen mit ihren seit vielen Jahren zerrütteten Gesellschaften dazu bei, dass der Menschenstrom nicht abreisst. Ob Wirtschafts-, Klima- oder Gewaltflüchtlinge – die Bezeichnungen sind längst irrelevant, weil sich die Fluchtgründe gar nicht so klar unterscheiden lassen. Es sind die zunehmend lebensfeindlichen, menschenverachtenden Verhältnisse und die gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen in weiten Gebieten Afrikas, welche die Menschen von dort zur Flucht drängen. Niemand verlässt sein Herkunftsland einfach so, ohne Not, schon gar nicht unter den heutigen Migrationsbedingungen. Und all die Menschen suchen Schutz und Perspektiven in einem Europa, das von der Geschichte der letzten fünfzig Jahre einigermassen verwöhnt wurde und trotz allen Verwerfungen und Rückschlägen der letzten Zeit noch immer eine Oase des Friedens und des Wohlstands in einer Welt darstellt, die vor die Hunde zu gehen scheint.

Als ginge uns das gar nichts an
Und inmitten dieser Oase die Schweiz, doppelt geschützt vor den Stürmen, fast schon ein Paradies, eine Exklave der Glückseligen in einem sturmgepeitschten Ozean. Zwischendurch weht eine Brise durchs Land, mal lau, mal eher steif, die Ausläufer eines Sturmtiefs, das manchmal näher kommt und sich wieder entfernt. Doch insgesamt erleben wir einen ruhigen Herbst. Die dürren Blätter schaukeln sanft zu Boden und bilden lockere Haufen, durch die selbstvergessen die Kinder stapfen.

Nicht dass ich mir den Herbst anders wünschte. Es freut mich, dass die Kinder hier unbeschwert Kind sein können, jedenfalls unbeschwerter als vielenorts. Ich bin auch froh und überaus dankbar, dass ich nicht vor Bomben und blutrünstigen Horden fliehen muss. Die Geschichte meint es gut mit mir, mit uns. Doch können wir weiterhin das groteske Geschehen, all die Verheerungen und blutigen Orkane in beschaulichem Entsetzen einfach so beobachten, als ginge uns das nicht wirklich etwas an? Ich bin aufgewühlt, bewegt, erschüttert. Wie noch selten zuvor fühle ich mich dazu aufgerufen, aktiv zu werden, um die Not zu wenden – jetzt und hier, wo ich bin, und so gut ich kann. Und so geht es vielen. Tätige Solidarität ist gefordert. Und sie wird ja auch gelebt.

Wir stehen in der Verantwortung
In diesem Herbst stehen wir in der Verantwortung. Eigentlich schon länger, aber jetzt können wir uns nicht enziehen. Denn es ist offensichtlich, dass uns all das etwas angeht. Parallel zu den globalen Handelswegen und Finanzströmen, parallel zum Klimawandel und zum irrwitzigen globalen Wohlstandsgefälle zieht sich eine – ebenfalls globale – Spur der Verantwortung. Das liesse sich an unzähligen Beispielen aufzeigen. Unser Wohlstand, unser Friede ist nicht vorstellbar ohne die Verelendung und Zerrüttung weiter Landstriche andernorts. Historisch nicht, aber auch nicht mit Blick auf die Gegenwart.

Wir sind ganz und gar verantwortlich für das, was geschieht auf dieser Welt. Und damit meine ich jeden einzelnen von uns, inklusive mich selber, aber auch unsere Gesellschaft, unser Gemeinwesen, unseren Staat, unsere Wirtschaft. Ich meine dich und dich und dich … Es gibt inzwischen nicht nur eine wirtschaftliche Globalisierung, sondern auch eine Globalisierung der Verantwortung. Die Ereignisse reiben sie uns immer deutlicher unter die Nase. Manchmal frage ich mich, ob es bei uns in Europa, ob es in der Schweiz so ruhig ist, weil wir uns im Auge des Sturms befinden, der über weite Teile der Erde hinwegfegt.


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