Ihr lieben Deutschen

Auf die Gefahr hin, dass ich von gewissen Kreisen in der Schweiz des Landesverrats bezichtigt werde, muss ich hier mal etwas gestehen: Ich mag euch. So etwas dürfte ich als Schweizerin ja gar nicht sagen, denn hierzulande gilt es nicht gerade als cool, Deutsche nett zu finden. Aber wie soll ich denn behaupten, ihr wäret schnoddrig, wenn man uns bei allen Aufenthalten bei euch sehr (gast)freundlich behandelt hat? Wie soll ich mich darüber beklagen, ihr würdet uns langsamen Schweizer nie ausreden lassen, wo die Deutschen, die ich kenne, immer schön brav warten, bis ich in meinem holperigen Schweizer-Hochdeutsch bis zur Pointe einer vermeintlich witzigen Bemerkung vorgedrungen bin? Weshalb sollte ich mich darüber ärgern, dass ihr bei uns in den Spitälern arbeitet, wo ich doch selber nie und nimmer genug Mumm in den Knochen hätte, blutige Wunden zu verarzten und alte Menschen zu waschen? Klar, mir sind auch schon doofe Deutsche begegnet, aber die waren auch nicht doofer als die Doofen bei uns. Natürlich finde ich euer Privatfernsehen schrecklich, aber es zwingt mich ja keiner, mir das anzusehen. Nein, ich sehe wirklich keinen Grund, euch doof zu finden; hin und wieder etwas sonderbar vielleicht, aber ganz bestimmt sehr nett und sympathisch. 

„Sonderbar?“, wundert ihr euch. „Sonderbar seid ihr Schweizer, aber wir doch nicht.“ Zwar muss ich euch da ein Stück weit Recht geben, aber ihr habt durchaus auch eure Eigenheiten, die sich dem auswärtigen Besucher nicht allzu leicht erschliessen. Wie muss ich zum Beispiel das Strassenschild deuten, das sich aus einem Überholverbot, einer Tafel mit einem Camper sowie der Zeitangabe 19 – 6 Uhr – vielleicht waren es auch andere Zahlen – zusammensetzt? Ergibt ja alles zusammen ein nahezu künstlerisches Arrangement, aber was bitte bedeutet das nun für mich als Autofahrerin? Bedeutet es überhaupt etwas für mich, oder geht das nur diejenigen etwas an, die mit Wohnwagen unterwegs sind? Ich muss gestehen, dass mich diese Kombination von Strassenschildern ziemlich verunsichert hat, so sehr, dass sie mich bis in meinen Traum verfolgt hat, in dem ich aus Angst, das falsche Schild zu befolgen, im Schneckentempo über eure Autobahnen gekrochen bin und nicht wagte, den Wohnwagen vor mir zu überholen. 

Sonderbar ist auch euer Umgang mit Jubiläen. Hat man uns damals als junge Lokaljournalisten gleich zu Beginn unserer Tätigkeit eingebleut, dass es keine „30-jährigen Jubiläen“ gibt, weil kein Mensch so viel Zeit zum Feiern hat, begeht ihr hemmungslos „25-jährige Gründungsfeste“, „50-jährige Geburtstage“ und vielleicht gar „100-jährige Jubiläen“. Und ich hatte mir stets gedacht, ihr wäret ein arbeitsames Volk. 

Was mich aber am meisten wundert ist euer Hang zu Klebrig-Süssem. Ihr ernährt euch doch wohl nicht mehrheitlich von Bonbons, Marzipan, Zuckerwatte und Plundergebäck, oder? Warum in aller Welt sind dann die Regale in euren Supermärkten von unten bis oben mit Süsswaren vollgestopft? Ich war immer der Meinung, das Anstehen am Schalter der Schweizer Post mit ihrem Süssigkeiten auf Kinderaugenhöhe sei der absolute Horror, aber nachdem ich erfolglos versucht habe, meine unvernünftigen, nach Süssem lechzenden Söhne tränenfrei durch eure Supermärkte zu lotsen, ist mein Respekt für alle Deutschen Mamas, die es schaffen, ihre Kinder gesund zu ernähren, ins Grenzenlose gestiegen. 

Vielleicht aber täuscht mich auch mein Eindruck, denn es könnte ja sein, dass ich bei euch einfach viel eher in Versuchung komme, zuzugreifen, weil es für sehr viel weniger Geld sehr viel mehr Kalorien zu kaufen gibt. Das Totschläger-Argument „Nein, das ist viel zu teuer, das können wir uns nicht leisten“ verfängt bei euch einfach nicht, zumal unsere Kinder schon ziemlich gewieft sind im Umrechnen des Euro-Kurses. Wenn das Ganze dann noch mit dem bei uns nicht erhältlichen, bei euch aber omnipräsenten, Waldmeistergeschmack daherkommt, dann kann auch ich nicht mehr widerstehen und sage ich ja, auch wenn ich sehr genau weiss, dass ich eigentlich nein sagen sollte. 

Ihr lieben Deutschen



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