Idiotenstunde

Von Stefan Sasse
Es gibt Rituale, die sind so eingefahren, verstaubt und enervierend, dass es einen schmerzt - und doch werden sie ein ums andere Mal abgefahren. Wenn ein Regierungspolitiker beispielsweise etwas sagt, dann kann man sich sicher sein, dass ein Oppositionspolitiker es in Bausch und Bogen verdammen wird, in möglichst starken Worten. Und wenn irgendwo ein Vollidiot um sich schießt und Menschen umbringt, dann kann man sich sicher sein, dass die Debatte auf einem beängstigend niedrigen Faktenlevel die unverstandene Popkultur als Schuldigen ausfindig machen wird. So war es jetzt mit dem Massaker in Aurora, Colorado, der Fall, wo James Holmes bei der Premiere von "The Dark Knight Rising" über ein Dutzend Menschen tötete. Noch bevor man irgendetwas wusste, lief die Gerüchteküche heiß, und zahllose Schreiber fühlten sich berufen, Predigten zu halten über etwas, das sie selbst weder verstanden noch verstehen wollten. Die Wurzeln dieser Art von Kulturkritik lassen sich bis ins 18. Jahrhundert verfolgen, wo der Lektüre von Büchern durch die Jugend die Wurzel des bekannten jugendlichen Starrsinns zugeschrieben wurde, der heute als Pubertät bekannt ist. Später waren es die bösen Romane (mit denen heute im Schulunterricht Kinder gequält werden, weil sie sich wider Erwarten doch als qualitativ hochwertig herausgestellt haben), dann die Abenteuergeschichten, an die die Generation 60+ heute mit nostalgieverklärtem Blick zurückdenkt, dann ärgerte man sich über die Expressionisten (heute würde man vor Freude an die Decke springen, interessierten sich Jugendliche für sie), dann waren es Rock'n Roll (Bill Healy und Elvis Presley), dann die Beatmusik, dann Comics, dann MTV, dann Computerspiele, inzwischen Facebook. Irgendwas ist immer, und es ist immer etwas, das diejenigen nicht verstehen, die darüber schreiben. 
So ist es auch dieses Mal. Beispiel gefällig? Dana Buchzik von der Berliner Gazette hat versucht, sich mental nach Colorado zu versetzen und die Szene nachzuerleben:
Es könnte eine Filmszene sein: Ein schlaksiger Hüne bahnt sich einen Weg durch seine Wohnung, an Kabelgewirr und Sprengstoff vorbei, packt Handfeuerwaffen in eine Tasche, wirft die Tür hinter sich zu. Techno pulst in die Magengrube. Zoom ins blasse Gesicht: ein Lächeln vielleicht, ein gewinnendes Lächeln beim Kauf der Kinokarte. Eine ungesicherte Seitentür, ein ungesehener Gang zum nah geparkten Auto. Der Film hat begonnen, die erste Schießerei ist bereits im Gange, als der Mann eintritt: Langer, schwarzer Mantel, kugelsichere Weste, Gasmaske. Er wirft Kanister auf den Boden, aus denen beißender Nebel aufsteigt, er schießt an die Decke. Kein nennenswerter Unterschied zu dem, was auf der Leinwand passiert. Deswegen bemerkt zunächst niemand, dass hier etwas aus dem Ruder läuft. Dann richtet der Mann seine Waffe in die Menschenmenge. In den umliegenden Kinos glaubt man an guten Sound, an bemerkenswert authentische Schussgeräusche. Zwölf Menschen sterben. Zoom auf leblose Kinderkörper auf den Stufen, kurz vorm Ausgang des Saals, Zoom auf schreiende Münder, auf Polizisten, die ausschwärmen, die die Gegend nach dem Täter durchkämmen wollen, der ruhig auf dem Parkplatz des Kinos wartet, sich anstandslos festnehmen lässt. Seine Haare sind rot gefärbt. Ich bin der Joker, sagt er. Mehr nicht.
Tatort Kino! Keine Bange, besser wird es nicht:
“The Dark Knight Rises” erzählt von Hass. Von einem maskierten Schurken, der in ein gefülltes Footballstadion eindringt und mit Sprengstoff und Waffen die Fans angreift. Die Bedrohung der Öffentlichkeit durch gewalttätige Bösewichte ist – im Film – nichts Besonderes. Der Joker ist der klassische Gegenspieler des Superhelden, bleich, teuflisch lächelnd. Er mordet aus Vergnügen, aus Zerstörungssucht – er ist eindimensional. Man macht es dem Zuschauer leicht, ihn zu verurteilen, als pervertierten Einzelfall, dem ohnehin nicht zu helfen wäre.
Blöd nur, dass der Joker keine roten Haare hat. Blöd nur, dass der Joker in "The Dark Knight Rises" überhaupt nicht vorkommt, sondern in "The Dark Knight". Und er ist wohl einer der am wenigsten eindimensionalen Charaktere der jüngeren Kinogeschichte, und ihn zu veurteilen ist überhaupt nicht leicht. Aber um das zu wissen, müsste man "The Dark Knight" gesehen und verstanden haben. Berichterstattung wie diese ist aber beileibe kein "pervertierter Einzelfall", dagegen scheint es aber wirklich so, als ob "dem ohnehin nicht zu helfen wäre". Es ist jedes Mal dasselbe. Fritz Göttler von der SZ etwa macht gar einen Ausflug ins Spirituelle: 
Ja, das Kino übt Gewalt aus auf seine Zuschauer, es zieht sie in Bann, stimuliert sie. Lässt sie teilhaben an unheimlichen Phantasien, erfüllt Wunschvorstellungen, von denen sie nichts ahnten und die gesellschaftlich verpönt sind. Die Zuschauer von Aurora, dies mag Christopher Nolan besonders schockieren, sind für diese Erfüllung brutal bestraft worden.
Wer von den verbotenen Früchten Hollywoods nascht, wird bald vom Schlag des Schicksals getroffen. Eine Strafe seien die Morde, für "unheimliche Phantasien". Eine Strafe von wem? Gott? Dem Schicksal? Yin und Yang? War Holmes ein Werkzeug der Vorsehung, sollte er die Macht ins Gleichgewicht bringen? Wahrscheinlich weiß Göttler das auch nicht so genau, aber immerhin weiß er, warum Leute den gottverdammten Batman sehen wollen. 

Idiotenstunde

Den da.

Was sollen das auch für Wunschvorstellungen sein, die Göttler da zu erkennen glaubt? Ausgerechnet bei Batman? Nolans Batman mag düster sein, aber bisher scheinen ihm die Saw-Filme nicht bekannt zu sein. Warum schauen Leute die an? Weil es ihnen Spaß macht. Warum spielen Leute 3D-Shooter? Weil es ihnen Spaß macht. Warum empfinden andere Spaß daran, zwei Leuten dabei zuzusehen, wie sie sich in einem Ring verprügeln? Der einzige Unterschied ist, ob es der jeweilige Kritiker selbst mag. Und nichts hebt einen mehr vom Mainstream ab als einfach mal aktuell beliebte Sachen zu bashen. Das funktioniert einfach immer. Dabei ist Nolans Batman mit Sicherheit einer der ungeeignetsten Gegenstände dafür, denn seine Filme sind vergleichsweise komplex, mit interessanten Charakteren und Storysträngen. Kein Vergleich zu irgendwelchem Slasher-Unfug. Mal ganz davon abgesehen, dass es sehr mondäne Erklärungen für das Auftreten des Täters gibt.
Jedes Mal die Pop-Kultur heranzuziehen, wenn sich ein solches Verbrechen ereignet, ist ebenso bequem wie billig. Es erklärt auch nichts. Für eine Weile kann man im Rad der öffentlichen Aufmerksamkeit mit diesen Thesen viel Staub aufwirbeln, weil sie einen so clever erscheinen lassen und die andere Variante, dass etwas mit dem Täter vielleicht nicht ganz in Ordnung gewesen sein könnte, bevor er den Film gesehen hat, wesentlich langweiliger und gleichzeitig unbequemer ist. Wenn die bösen Comics, Filme oder Spiele schuld sind, dann hat gleichzeitig sicherlich niemand Schuld, der den Täter irgendwie kannte. Und das ist beruhigend. Irgendetwas erklären kann es nicht.

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