Schwule! Überall waren Schwule. Das Land schien schwulstig zu verkitschen. Die gute alte Familie: ein Auslaufmodell! Nurmehr Sodomie. Männer, die beim Knaben lagen, wie beim Weibe. Homosexuelle Lehrer gefährdeten das Kindeswohl, infizierten die unschuldigen Menschlein mit diesem heimtückischen Homo-Virus. Die Gesellschaft musste dringend aus den Pranken der um sich greifenden Verschwulung errettet werden. Und gottlob, es gab ja wackere Recken gegen diese Pandemie, die da unkontrollierbar überhandnahm. Da war John Briggs, ein kalifornischer Senator, der mit seiner Gesetzesinitiative schwule und lesbische Lehrer und Lehrerinnen mit Berufsverbot belegen wollte. Denn erwiesen sei, schärfte er der amerikanischen Öffentlichkeit ein, dass Schwule und Lesben Kinder zu ihresgleichen bekehrten, wenn man sie nicht aufhielt. Saftwerbefachkraft Anita Bryant, mittlerweile ins politische Fahrwasser geschwommen, predigte vom Teufel, der in jedem schwulen Leib eingefahren sei und der die Nation gefährde, indem er sie homosexuell werden ließ. Da klang sie ganz wie Präsidentenschwester Ruth Carter Stapleton, eine evangelikale Furie, die den Schwulen den Heiland ans Herz legte, um endlich von dieser grausamen Krankheit geheilt zu werden. Vorallem Bryant wurde in jenen Jahren zur Stilikone der Anti-Schwulen-Bewegung.
In dieses vergiftete Klima, in dem Homosexuelle geprügelt und hin und wieder, unter Desinteresse der Behörden, ermordet wurden, betrat Harvey Milk die Szenerie. Der Schwulenaktivist wurde Stadtratsabgeordneter San Franciscos und fand in Bürgermeister George Moscone einen liberal denkenden, progressiv agierenden Koalitionspartner für diverse Gesetzesvorhaben. Ein anderer Stadtrat, im selben Jahr wie Milk gewählt, dessen Name Dan White war, wandte sich angewidert von diesem liberalen Geist ab und geriet im Stadtrat auch deshalb mehr und mehr in Isolation. Bald schon trat er zurück, überlegte es sich binnen Tagen aber nochmal anders und versuchte einen Rücktritt vom Rücktritt. Moscone jedoch gewährte ihm dieses Zurück nicht mehr.
Dan White äußerte sich in seiner Zeit als Abgeordneter öfter zur Sittenlosigkeit, die seine Stadt ergriffen habe. Familien sähen sich von Schwulen gefährdet, die Werte der Nation würden verächtlich gemacht, der schwule Lebensentwurf verhöhne die Vereinigten Staaten. Bryant und Briggs standen ihm geistig nahe. Als Milk ein Gesetz in den Stadtrat einbrachte, welches die Gleichstellung von homosexuellen Bürgern zur Absicht hatte, stimmte nur White dagegen. Bestärkt durch das Engagement der Anti-Schwulen-Bewegung, wähnte sich White als das letzte Bollwerk gegen das Sodom und Gomorra, das sich San Francisco nannte. Bryants, Briggs und Carters Thesen waren die Melasse seines Denkens, der Hass auf Homosexualität versuppte sich zu einem paranoiden Weltbild, in dem es vor Schwulen und Lesben, die das gute alte Patriachat und traditionelle Lebensweisen angeblich zertrümmern wollten, nur so wimmelte. Wie die Fratzen von enorm benasten Juden, die im hitleristischen Deutschland von Propagandaplakaten grinsten, so glaubte White allerorten die Verschlagenheit Klischeeschwuler zu erahnen. Er war ein von geilen Schwulen und maskulinen Lesben verfolgter Stadtrat, das Kastell unmittelbar an der Front, die Bastion der nationalen Vernunft an der Basis.
Bürgermeister Moscone, der keine drei Wochen vorher Milks Gesetz zur Gleichstellung homosexueller Personen unterschrieben hatte, bat White unter vier Augen in sein Büro, gewährte ihm aber, wie schon erläutert, kein Zurück mehr. Deshalb zog White eine Pistole und schoss. Moscone war sofort tot. Der Schuss hallte durch das Rathaus, aber noch war nicht klar, woher er stammte. So hatte White ausreichend Zeit, um Harvey Milk in seinem Büro aufzulauern. Er trat ein, zog erneut die Pistole und tötete auch den ehemaligen Stadtratskollegen.
Danach kam es zu Unruhen, zu Demonstrationen. Und zu vielen Entkräftungen. White habe im Kurzschluss gehandelt, sei depressiv gewesen, durchgedreht. Vor Gericht lautete die Entschuldigung, er habe sich fehlerhaft ernährt, was eine Depression zur Folge hatte und die Tat zu einer Affekthandlung mache. Warum jemand aber im Affekt eine Pistole mit sich führte, wurde nur sehr leise gefragt. Und weshalb jemand im Kurzschluss gezielt das Büro desjenigen Abgeordneten aufsucht, den White für die Sittenlosigkeit verantwortlich machte, schien überhaupt nicht von Interesse zu sein. Es durfte nicht sein, was man still erahnen konnte. Das stetig anti-schwule Klima, das sich für viele konservative und reaktionäre Eiferer zu einer ausgewachsenen Paranoia verdichtete; die krude Thesen Briggs, das fleißige Engagement der hausmütterlichen Bryant, das fromme Getue der Präsidentenschwester - die übrigens Milk mal eine Rückkehr zu Jesus empfahl, obwohl dieser Jude war! -, es hat in White bewirkt, sich als Vorposten der nationalen Sittlichkeit zu fühlen. Dass man ihn nicht zurück in den Stadtrat ließ, war vermutlich nur der finale, der ausschlaggebende Punkt. Und irgendwer musste ja aufräumen mit dem Sündenbabel, mag er sich entschuldigt haben.
Natürlich haben die Ikonen der Anti-Schwulen-Bewegung niemals zum Mord aufgerufen. Sie würden sich gewehrt haben, hätte man ihnen das unterstellt. Aber die von ihnen publizierte Niedertracht, die sie für freie Meinung erachteten, hat doch eine Atmosphäre entstehen lassen, die je und je angespannter wurde. Irgendwann musste die Spannung gelöst werden. White hat sie gelöst - auf paranoid-ideologische Art. Die einzige denkbare Art, wenn man fort und fort ideologischer Agitation ausgesetzt wird. Ideologie promenierte schon allezeit mit der Paranoia händchenhaltend durch die Historie. So will es der Brauch.
Dan White wäre eine gelungen-traurige Parabel auf Breivik, wenn er nur erfunden wäre. Aber White gab es wirklich, er wurde 1978 wirklich zum Werkzeug derer, die ihr Sendungsbewusstsein kreuzritterlich an der Öffentlichkeit abwetzten. Von seiner Warte aus hat er nur logisch gehandelt, er hat getan, was getan werden musste, er war seinen geistigen Vätern und Müttern ein gehorsamer Sohn. Ein bisschen liegt in Tätern, die ideologisch vereinnahmt werden, denen man den Hass und die Aversion gegen bestimmte gesellschaftliche Gruppen ins Denken publiziert, auch ein Opfer begraben - ein bisschen steckt denen, die sich weigern, als Brandstifter bezeichnet zu werden, auch der Täter in den Knochen.
Jedes Verbrechen benötigt ein gedankliches Gerüst. Der Dieb schärft sich ein, dass in einer korrupten Welt, in der die Umverteilung der Güter nicht anständig klappt, der Diebstahl eine legitime Lappalie sei - seine Erweiterung ist der, der auch mordet, um Güter umverteilen, in seine eigene Hosentasche umverteilen zu können. Die mögen beispielsweise Max Stirner so deuten und haben letztlich sogar eine ideologische Grundlage ihres Handelns. Der hasserfüllte Mörder, der einen Schwulen deshalb tötet, um damit gegen die gay community ein Zeichen zu setzen, hat gleichfalls seine Autoritäten, auf denen er sein Weltbild baut. Menschenschlächter, die gegen eine multikulturelle Gesellschaft ins Feld ziehen, haben ihre eigenen Kapazitäten gelesen und bewundert. Nichts geschieht einfach so, alles hat eine geistige Herkunft. White wäre womöglich ohne Briggs, Bryant und Carter niemals zum Mörder geworden - und der norwegische Massenmörder wäre nicht denkbar ohne die paranoiden Stimmen der neuen europäischen Rechten, die sich kreuz und quer durch die Gazetten des Kontinents ergießen.