Identitätskrise

Von Traumperlentaucher

Der Fluss glitzerte in der Morgensonne, ein warmer Wind strich gegen den Strom und kräuselte das Wasser. Die Weiden neben dem Uferpfad badeten ihre Zweige und draußen zog ein einsames Floss vorüber. Es schien keinen Kapitän zu haben, nur eine einzelne Holzkiste stand auf den zusammengebundenen Stämmen. „Morgen“, stand groß in roten Lettern darauf. Eine Botschaft? Verwirrt schaute ich mich um. Ich befand mich immer noch, oder schon wieder, in meinem Flusstraum. Wie üblich stand ich am rechten Ufer an einem Abschnitt, der mir gut vertraut war. Ich kannte hier jeden Baum und jeden Stein, dieser Ort war mein Startpunkt oder besser gesagt mein Standpunkt, wenn ich diesen Traum betrat.

Vom Gesichtslosen war weit und breit nichts zu sehen. Niemand wandelte auf dem Uferpfad, nur zwei Eichhörnchen zankten sich um eine Nuss. Wo war mein Traumbegleiter geblieben? Hatte ich vorhin nicht den Geruch von Zigaretten wahrgenommen und sein Husten gehört? Ich  kletterte die Böschung hoch. Aber auch hier oben, auf dem schmalen Pfad aus festgetretener Erde, war niemand zu sehen. Gott sei Dank, dachte ich, nun bin ich den unheimlichen Kerl los. Ich, Anselm Berger, der Träumer.

In manchen Träumen war ich selbst auf einem Floss unterwegs gewesen. An anderen Tagen wie heute, musste ich aber zu Fuß gehen. Doch wohin ging ich überhaupt? Wohin sollte ich mich wenden? Ich war unschlüssig, hatte meinen Elan verloren. Mein Leben war ruiniert. Die Wirklichkeit, die jenseits des Traums auf mich wartete, schien mir nicht mehr lebenswert. Am liebsten wäre ich hier geblieben. Doch leider war dies nur ein Traum und aus Träumen musste man ab und zu aufwachen, ob man wollte oder nicht.

Normalerweise ging ich immer flussabwärts, aber eigentlich spielte es keine Rolle, ich kam sowieso nie vorwärts und auch nach langen Märschen traf ich immer wieder auf die gleichen Stellen. Ich hatte mich damit abgefunden, weder die Quelle noch das Meer zu erreichen. Der Weg war wichtig, nicht das Ziel, redete ich mir ein.

So marschierte ich denn los, diesmal mit dem Strom, um meinen trüben Gedanken zu entkommen, die ich flussaufwärts vermutete. Doch nach wenigen Schritten holten sie mich bereits ein. Wie hatte es nur soweit kommen können? Was war aus mir geworden? „Es war der Unfall, er hat mein Leben aus der Bahn geworfen“, redete ich mir zu. Hätte mich dieser Armleuchter von Automobilist nicht über den Haufen gefahren, so würde ich heute nicht träumen, sondern mein ruhiges Leben zwischen Job und Familie leben. Irgendetwas musste durch den Aufprall in meinem Kopf durcheinander geraten sein. Schon in der ersten Nacht im Krankenhaus hatte mich ein Traum heimgesucht, wie ich ihn nur als Kind gehabt hatte. Und dann war ich immer mehr in diese Traumwelt hineingeraten. Mit der Zeit wurden die Träume zu einer Art Droge. Ich konnte ohne sie nicht mehr leben. Den ganzen Tag über wartete ich nur darauf, dass es endlich Abend würde und ich einschlafen konnte. Weg von meinen Problemen, weg von Familie und Job, hinein in eine Welt, die vollständig mir gehörte. Nur mir allein! Anselm Bergers Refugium.

Kaum hatte ich ein paar Schritte getan, befand ich mich wieder auf einer Parkbank in der Stadt. Wie kam es nur, dass mich der Flusstraum so abrupt verstieß?

„Du bist immer noch auf der Flucht“, hörte ich in diesem Augenblick eine Stimme hinter mir und dann roch es wieder nach Zigarettenrauch. Ich drehte mich erschrocken um, vor mir stand der Gesichtslose.

„Nein, ich träume“, versuchte ich mich hinauszuwinden.

„Auf einer Parkbank am helllichten Tag.“

Was wollte der Kerl von mir? Was ging ihn mein Leben an? Ich durfte doch träumen wann und wo ich wollte, ärgerte ich mich. Und überhaupt! Dies war die Wirklichkeit, hier hatte er nichts zu suchen. Oder war es etwa auch ein Traum, wie mein ganzes verschissenes kleines Leben?

„Wohin soll es denn gehen, Traumperlentaucher?“, fragte er.

„Ich bin kein Traumperlentaucher, ich heiße Anselm, das solltest du doch wissen. Wo ich hingehe und was ich tue ist meine Sache, ich brauche dich nicht. Ich will keinen Traumbegleiter, hast du das noch nicht kapiert?“

Bei diesen Worten wurde sein Nichtgesicht noch undeutlicher als sonst und die Umrisse seines Körpers begannen zu verschwimmen. Er löste sich in Nichts auf. Wie betäubt saß ich auf der Bank, bis ich realisierte, dass es in der Zwischenzeit dunkel geworden war. Die Fenster der Bürogebäude auf der gegenüberliegenden Seite waren hell erleuchtet und ab und zu sah ich darin Menschen herumwuseln. Wie Schattenameisen in einem Albtraum. Ich schlotterte, es war kalt. Nebelschwaden krochen durch den Stadtpark. Wohin sollte ich nun gehen? Auf einmal wurde mir bewusst, dass ich obdachlos war. Schlimmer noch, ich war heimatlos. Die Wirklichkeit war nicht mehr meine Welt und die Träume verfolgten mich.

„Verdammt“, fluchte ich laut, „ich kann doch nicht wie ein Penner auf einer Bank übernachten.“ Ich zog meine Brieftasche aus dem Jackett und zählte die Geldscheine. Für ein Hotelzimmer würde es reichen. Außerdem hatte ich ja noch eine Kreditkarte. Die Limite war fast ausgeschöpft, aber wenn es mir gelang, damit die Übernachtung zu bezahlen, konnte ich mein Bargeld schonen.

Ich erhob mich und ging hinüber zur Straße. Es waren nicht mehr viele Menschen unterwegs in dieser Beton- und Bürowüste, die meisten waren schon nach Hause gegangen oder ins Stadtzentrum mit seinen Bars und Restaurants. Bei diesem Gedanken knurrte mein Magen. Wie lange ich wohl als Vagabund überleben konnte?

„Sie kann mich doch nicht einfach so abschieben“, sagte ich zu mir. „Einfach so mir nichts dir nichts vor die Tür setzen. Es gibt bestimmt ein Gesetz, das dies verbietet.“ Natürlich hatten wir uns am Morgen gestritten und natürlich war ich nicht ganz mich selbst gewesen, nachdem ich die Mitteilung über den Tod meines Vaters erhalten hatte, und ich hatte einige böse Dinge gesagt, aber das gab ihr noch lange nicht das Recht, einfach zu sagen: „Du brauchst heute Abend nicht mehr nach Hause zu kommen. Es ist aus zwischen uns, ich werde mich scheiden lassen.“ Nein, so einfach konnte das nicht sein. Ich würde nach Hause gehen und meinetwegen im Wohnzimmer auf der Couch schlafen. Sie musste mich hereinlassen, das musste sie.

„Wohin soll es denn gehen?“, fragte jemand in der Nähe. Ich schaute mich betroffen um. An der Ecke des Kiosks, an dem ich gerade vorbei ging, stand eine Gestalt in einen langen dunklen Mantel gehüllt, das Gesicht unter einer Kapuze verborgen. Ein Mönch? Ein Räuber? Nein, begriff ich, der Gesichtslose! Schon wieder! Was zum Henker hatte er hier zu suchen, regte ich mich auf. Dies war die Realität, meine Realität. Wieso verfolgte er mich wie ein Stalker? Rasch ging ich weiter.

„Wir sollten flussaufwärts gehen“, rief er mir nach. „Oben bei den Quellen wirst du finden was du suchst.“

„Ich suche nichts“, rief ich zurück. „Und du hast hier nichts zu suchen. Dies ist kein Traum.“

„Doch, du suchst dich! Und du suchst den richtigen Traum.“

Die Zufahrt zum Innenhof, wo ich mein Fahrrad gelassen hatte, war versperrt. Ich musste den Bus nehmen. Während der Fahrt fuhren meine Gedanken im Kreis herum. Heute hatte sich mein Leben auf einen Schlag verändert. Was würde nun aus mir werden? Würde ich einen neuen Job finden, ein neues Zuhause, ein neues Leben? Konnte ich einen Neubeginn überhaupt schaffen ohne genügend Geld? Ersparnisse hatte ich keine, ohne Lohn auf dem Konto am Ende des Monats war ich aufgeschmissen. Doch das galt auch für meine Familie. Maria konnte unmöglich mit ihrem kleinen Einkommen die Wohnung bezahlen und die Kinder durchs Leben bringen.

„Sie wird mich wieder nehmen müssen“, murmelte ich, zufrieden über diese Erkenntnis.

In der hintersten Ecke des Busses hustete ein Passagier wie ein Stumpendreher, ich konnte sein Gesicht nicht sehen, es wirkte verschwommen.

Angst stieg in mir hoch. Sollte ich die Polizei rufen und ihr sagen, dass ich von einem gesichtslosen Stalker verfolgt würde? Würden sie mir glauben oder mich womöglich schnurstracks in ein Sanatorium für Geistesgestörte einliefern. Sanatorium? Dieser Name ließ eine Seite in mir anklingen. Nein, ich musste den Verfolger aus dem Flusstraum selbst abschütteln. Ich versuchte den Gesichtslosen zu ignorieren. Noch drei Haltestellen. Es roch nach Zigarettenrauch. Dabei war doch das Rauchen im Bus strikte verboten! Mein Verfolger schien sich an keine Regeln zu halten. Ob ich den Buschauffeur darauf aufmerksam machen sollte? Vielleicht würde er ihn rauswerfen. Endlich hielt der Bus an dem Ort, an dem ich aussteigen musste. Es war nicht mehr weit bis zu meiner Wohnung. Ich ging, so rasch ich konnte, den Weg zwischen den Wohnblöcken durch, fast wäre ich gerannt.

„Familie Dornbusch“, stand auf dem Täfelchen neben der Tür. Das war unmöglich. Ich schaute mich um. Hatte ich mich getäuscht? War dies das falsche Haus? Hatte meine Frau bereits den Namen gewechselt? Panik schlich in mein Herz, es raste. Was nun?

„Und jetzt, wohin soll es denn gehen?“, fragte eine Stimme aus dem Dunkel des Korridors. Meine Hände begannen unkontrolliert zu zittern.

„Wo ist meine Familie?“, schrie ich den Schwarzgekleideten an, der lässig an den Briefkästen lehnte, den Hut tief ins Gesicht gezogen,.

„Dies hier ist nicht die Wirklichkeit, es ist ein Traum, in den du dich verirrt hast. Und es ist nicht einmal dein Traum, sondern Anselm Bergers Traum. Komm mit mir, wir gehen zurück zum Fluss.“

„Ich bin Anselm Berger und ich will nicht zum Fluss, ich will nach Hause!“ Tränen schossen mir in die Augen und vernebelten die Briefkästen und den Gesichtslosen.

„Beruhige dich, du machst ja alles noch schlimmer.“

„Noch schlimmer kann es gar nicht werden. Ich habe heute meinen Job verloren, meine Familie hat mich rausgeworfen und mein Vater ist gestorben.“

„Das warst doch nicht du. Es war Anselm, der seinen Job verloren hat, den er übrigens gehasst hatte und es war Anselm, der seine Frau verloren hat, die er nie richtig gekannt hatte, gar nicht zu reden von seinen Töchtern, um die er sich nie gekümmert hat. Und das mit dem Vater betrifft auch nicht dich, deiner ist schon lange tot und spielt Schach zwischen den Sternen. Willst du dich darüber beschweren?“

„Es ist nicht gerecht“, schrie ich. Außerdem können sie nicht ohne mich leben. Sie haben zuwenig Geld.

„Dein Geld brauchen sie nicht. Sie brauchen überhaupt kein Geld. Anselms Liebe hätten sie gebraucht. Genauso wie sein Vater, den er im Stich gelassen hat.“

„Ich habe ihn nicht im Stich gelassen, er hat mir immer Moralpredigten gehalten, wenn ich ihn besuchte. Und beim letzten Mal hat er mich gar nicht mehr erkannt. Darum bin ich nicht mehr hingegangen.“

„Ich sage es noch einmal. Du hast eine Identitätskrise. Du bist nicht Anselm. Komm, lass uns einige Schritte zusammen gehen und darüber nachdenken.“

„Wozu und wohin?“, fragte ich.

„Flussaufwärts natürlich.“

Die Briefkästen lösten sich auf und machten dem Uferweg Platz, der Gesichtslose stieg durch die Lücke in der Mauer und ich folgte ihm. Was sollte ich sonst tun. In dieser Welt stimmte nichts mehr. Vielleicht war sie ein Traum, vielleicht eine fremde Wirklichkeit. Der Gesichtslose und mein Flusstraum waren die einzigen Anhaltspunkte, die mir geblieben waren.

Wenn die Schatten kommen, verschiebt sich die Wirklichkeit und die Träume bekommen Risse. Euer Traumperlentaucher?