Von Stefan Sasse
Die USA hangeln sich von Haushaltskürzungsmechanismus zu Haushaltskürzungsmechanismus. Deutschland hat sich eine Schuldenbremse ins Grundgesetz geschrieben und führt den Kreuzzug des wahrlich Gerechten, um sie in ganz Europa einzuführen. Das Diktum der "Alternativlosigkeit" ist mittlerweile zu seiner eigenen Karikatur geworden. Die ungemeine Popularität dieser Art von Politik in den letzten zwei, drei Jahren hat aber handfeste Gründe, die in mehr als nur einer zynischen Einstellung der Politiker zu ihrem eigenen Geschäft beruhen.
Die schwarz-gelbe Koalition wird allgemein als eine gescheiterte Unternehmung angesehen. Von den selbstgesetzten Zielen hat sie praktisch keine erreicht, und wenn sie einmal handelte, so erschien sie fast immer als von den Ereignissen und gesellschaftlichen Kräften getrieben - siehe Fukushima, siehe Mindestlohn, siehe Homo-Ehe. Allgemein wird dies als Versagen wahrgenommen, dass der allenfalls mittelmäßigen Qualität der Politiker zuzuschreiben ist, die derzeit die Amtsstuben füllen. Während dies für einige sicher zutrifft, sind andere wesentlich geschickter, ohne aus diesem Verhaltensmuster herauszufallen. Woran liegt das?
Die Wahrnehmung von Politik hat sich in den letzten Jahren entscheidend geändert. Das Diktum der Transparenz, das weniger von der Piratenpartei selbst eingeführt wurde als sie vielmehr beflügelte, hat praktisch alle Beobachter des politischen Prozesses, ob professionell (Journalisten) oder eher passiv (Bürger) erfasst. Und da das alte Diktum wahr bleibt, nachdem es zwei Dinge gibt, von denen niemand sehen will wie sie gemacht werden - Würste und Gesetze -, muss die Politik neue Verrenkungen eingehen, um ihr Handeln präsentabel zu machen. Während früher vieles in Hinterzimmern ausgehandelt wurde, gilt dies inzwischen als Ursünde der Politik. Es ist ein bisschen so wie die "Geheimdiplomatie", die durch den Ersten Weltkrieg so in Verruch geriet.
Da notgedrungen viele Prozesse öffentlich stattfinden müssen oder doch zumindest an die Öffentlichkeit gezerrt werden, während gleichzeitig eine Art Rationalisierungsprozess stattfindet (man denke nur an Nate Silvers empirisch gestützte Wahlprognosemethode), schrecken immer mehr politische Akteure vor Entscheidungen zurück. Beispiele gefällig?
Ein Paradebeispiel für den von außen auferlegten Handlungszwang ist Stuttgart21. Zwei Partner mit konträren Ideen gingen eine Koalition ein, ohne in der einen konträren Frage einen Kompromiss zu finden. Stattdessen ließen sie das Volk entscheiden, weil sie die Konsequenzen einer Entscheidung fürchteten. Weder wollte man den Ausstieg und die damit verbundenen Kosten verantworten noch die zahlreichen Gegner des Projekts enttäuschen. Man ließ sich also zu einer Entscheidung zwingen.
Eine andere solche Variante ist die Schuldenbremse. Da das Parlament sich außerstande sah, eine eigenständige Entscheidung darüber zu treffen, wie Einnahmen und Ausgaben auf ein ähnliches Niveau gebraucht werden können, fesselten sie sich selbst durch das Grundgesetz um so einen künstlichen, juristischen Handlungszwang zu schaffen anstatt sich dem politischen zu ergeben. Auch hier erkennt man eine Flucht aus der Verantwortung durch die Politik, die stattdessen in die Hände des Bundesverfassungsgerichts gelegt wird.
Ein dritter solcher Fall ist das Sequester in den USA, also die automatischen Haushaltskürzungen, die im Falle einer Nicht-Einigung des Kongresses in Kraft treten. Auch hier entziehen sich die politischen Akteure der Notwendigkeit eines Kompromisses, indem sie das Gesetz in die Verantwortung nehmen und sich zu einer unpopulären Maßnahme zwingen lassen.
In einem vierten und letzten Beispiel können wir die griechische Regierung beobachten, die sich ebenfalls der Entscheidung entzogen hat, entweder die Konfrontation mit Deutschland zu suchen oder aber seine Auflagen für Hilfe zu erfüllen. Stattdessen ließ man die Sache so lange laufen, bis beide Seiten auf die Troika und damit eine weitere nicht durch Wahlen legitimierte Institution zurückgreifen konnten, die entsprechend auch keine Bestrafung durch den Wähler fürchten musste.
Ich möchte hier keinesfalls nur einseitig mit dem Finger zeigen. Wenn es für die beteiligten Politiker noch irgendeines Beweises bedurft hätte, dass ihr Kurs weise war (weise, wenn man seinen Posten behalten möchte), dann reichte ein Blick nach Italien. Ungewöhnlich für den bisherigen Verlauf der Euro-Krise waren die Maßnahmen nämlich von jemandem durchgeführt worden, der sich tatsächlich der politischen Verantwortung stellte (und prompt mit desaströsem Ergebnis abgewählt wurde). Auch in den USA erfährt der republikanische Gouverneur von New Jersey, Chris Christie, gerade, welche Konsequenzen seine Kompromisspolitik mit Obama hat: Er wird von seinen Parteifreunden geradezu gemobbt.
Für die Politiker stellt sich die Lage relativ klar dar. Institutionen, die nicht demokratisch gewählt werden und relativ unabhängig sind - Verfassungsgerichte, Zentralbanken etc. - genießen ein geradezu irrational hohes Vertrauen und ebenso hohe Zustimmung, während die durch nie dagewesene Level an Transparenz kontrollierten demokratischen Institutionen auf einem absoluten Tiefpunkt angelangt sind. Der paradoxe Effekt ist eindeutig: Je mehr Transparenz in den politischen Prozess fließt und ihn öffentlich macht, desto abgeneigter sind die Bürger und desto weniger Vertrauen haben sie. Zu der Zeit, als noch praktisch alle großen Entscheidungen in Hinterzimmern ausgemacht wurden (niemand wäre auch nur auf die Idee gekommen, Willy Brandt zum Kandidaten zu wählen, das wurde ausgebrokert) war das Vertrauen ungleich höher. Die rationale Reaktion ist also, für die (transparenten) Entscheidungen nicht verantwortlich zu sein. Die Politik hat quasi die Flucht nach vorne angetreten.
Die große Frage ist nun, ob wir es mit einer Zeit des Übergangs zu tun haben und die zu beobachtenden Effekte reine Reibungsverluste sind, oder ob das Transparenzversprechen inhärent fehlerhaft ist und dieser Effekt zwangsläufig hervorgerufen wird. Ich muss offen gestehen, dass ich es nicht weiß. Es gibt für beide Deutungen gute Argumente. Eines aber ist sicher: Der Effekt der Flucht aus der Verantwortung ist eindeutig und von Angela Merkel zur Perfektion getrieben worden, die einen eindeutig brillanten politischen Instinkt beweist. Die dominante Deutung, dass sie à la Kohl einfach alles aussitzt ist falsch. Diese Frau ist nicht auf die leichte Schulter zu nehmen.