Ich will Schlimmeres spüren

photoPhoto: nicasaurusrex

Ist jeder Ritzversuch von Schülern ein Hinweis auf eine psychische Erkrankung? Sicher nicht. Oft sind es nur Hilferufe nach mehr Aufmerksamkeit, weil etwas in der Betreuung nicht ausreicht oder das Kind einen gesteigerten Betreuungsbedarf hat. Oder es ist eine Geisteshaltung, die vergleichbar mit dem Tätowieren Selbstverletzung verlangt, wie man es in mehreren Gruppierungen der jugendlichen Subkulturen findet. Vorsicht ist geboten, wenn Auffälligkeiten und Störungen im psychischen Erleben auftreten.

Versuchen Kinder, Jugendliche ihre Verhältnisse und Lebensumstände durch Schmerz erträglicher zu machen oder dauernd auftauchende negative Gefühle durch Schmerz zu lindern, sind Differentialdiagnosen bei Psychiatern und Psychologen erforderlich.

Ein Forscherteam aus Mannheim und Heidelberg hat Hinweise dazu gefunden, warum Selbstverletzungen Patienten mit Borderline-Störung helfen, intensive Emotionen zu lindern. Solche Patienten empfinden häufig extreme positive und negative Gefühle und haben Schwierigkeiten, diese in den Griff zu bekommen. Wie die Wissenschaftler vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim nun zeigen konnten, dämpfen Schmerz-, aber auch Wärmereize offenbar die überschießenden Reaktionen des Gefühlszentrums im Gehirn der Betroffenen. Dies könnte dazu beitragen, die Mechanismen der Emotionsregulation genauer zu verstehen und sie möglicherweise auch zu beeinflussen.

Patienten mit einer Borderline-Störung nutzen häufig ungewöhnliche Methoden, um ihre starken negativen Gefühle in den Griff zu bekommen: Sie ritzen sich die Arme auf, trinken schädliche Substanzen oder verletzen sich mit einer brennenden Zigarette. Die Betroffenen berichten, dass dieses selbstverletzende Verhalten ihnen Erleichterung verschafft und ihren negativen Gefühlszustand lindert. Aber auch hier gibt es „Trittbrettfahrer“, die das nur tun, um Aufmerksamkeit zu bekommen oder ihren Status in der Peer-Group/Gruppe der Gleichaltrigen zu erhöhen.

Die Forscher um Inga Niedtfeld untersuchten mit Hilfe der Magnet-Resonanztomographie (MRT), welche Regionen im Gehirn von Borderline-Patientinnen beim Betrachten negativer und neutraler Bilder aktiviert werden. Nach jeweils einigen Sekunden des Bilderbetrachtens folgte ein Wärmereiz, der entweder nicht schmerzhaft war oder eine für die entsprechende Probandin schmerzhafte Temperatur erreichte. Die Hirnaktivität wurde dabei weiterhin aufgezeichnet. Zusätzlich analysierten sie die Reaktion des Gehirns auf einen Wärmereiz, der entweder nicht schmerzhaft war oder eine für die Probanden schmerzhafte Temperatur erreichte. An der Untersuchung nahmen 23 Borderline-Patientinnen und 26 gesunde Frauen als Kontrollgruppe teil.

Die Analyse der Gehirnbilder ergab zunächst, dass bei Patientinnen mit Borderline-Störung im Vergleich zur Kontrollgruppe Hirnregionen stärker aktiviert waren, die an emotionalen Reaktionen beteiligt sind – und zwar sowohl bei negativen als auch bei neutralen Bildern. Diese Regionen umfassten die Amygdala, die Insula und das vordere Cingulum. Der Amygdala wird allgemein eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung negativer Gefühle zugeschrieben. Dieser Zusammenhang fand sich auch hier: Je aktiver die Amygdala der Probandinnen im Versuch war, desto größere Schwierigkeiten hatten sie, negative Gefühle zu regulieren.

Überraschenderweise wirkten sowohl die schmerzhaften als auch die nicht schmerzhaften Wärmereize diesem Effekt entgegen: Sie unterdrückten die Aktivierung der Amygdala. Dieser Effekt ließ sich in beiden Untersuchungsgruppen beobachten, war jedoch bei den Borderline-Patientinnen stärker. „Die Ergebnisse lassen sich mit der Annahme vereinbaren, dass schmerzhafte Reize Borderline-Patienten Erleichterung verschaffen können, weil sie die für Emotionen zuständigen Hirnregionen hemmen“, schreibt John Krystal, Herausgeber der Zeitschrift „Biological Psychiatry“, in einem Kommentar. Das Verständnis dieser Mechanismen könnte dazu beitragen, Strategien zu entwickeln, mit denen die Betroffenen ihre intensiven Gefühle in den Griff bekommen können, ohne sich dabei selbst zu schaden.

Selbstverletzungen und Ritzen als Alarmzeichen


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