Plötzlich ist es wie im Märchen. Ich überlasse mit schlechtem Gewissen mein ganzes Familienchaos meiner Schwester, um “Meinen” im Spital zu besuchen – und um endlich aus diesem Arzt herauszupressen, was eigentlich los ist – und bei meiner Heimkehr glaube ich, mich im Haus geirrt zu haben. Alles glänzt, Prinzchens Kleiderschrank ist aufgeräumt, die Abfalleimer sind geleert und statt einer Schwester stehen plötzlich zwei da, dazu auch noch meine Mutter, Karlsson und Luise, mit Putzlappen bewaffnet. Sie haben das nicht so geplant, sind einfach zufällig gerade zusammengekommen und anstatt gemütlich Kaffee zu trinken machen sie sich dran, meinen Dreck zu beseitigen. Und versprechen, wieder zu kommen.
Ich habe mich noch kaum von meinem freudigen Schrecken erholt, da klingelt das Telefon und Schwester Nummer drei bietet an, morgen die kleineren Kinder durch den Wald zu jagen, wenn die grösseren aus dem Haus sind. Etwas später gehe ich kurz ins Büro, um eine Kleinigkeit zu erledigen und als ich zurückkomme, ist der Einkauf, den ich diese Woche habe liefern lassen, fein säuberlich verstaut. Wieder Karlsson, Luise und meine Mutter. Eine WC-Pause später hat sich Karlsson bereits an den Herd gestellt, um das Abendessen vorzubereiten. Luise versucht derweilen, ihrem grossen Bruder beizubringen, dass er einen kleinen Mist gebaut hat: “Ich möchte jetzt wirklich nicht mit dir streiten, Karlsson, aber das war nicht besonders schlau von dir, was du vorhin gemacht hast…” Ist dies das gleiche Mädchen, das ich jeweils wegen seiner verletzenden Worte zurechtweisen muss? Als ich glaube, dass es besser nicht kommen könnte, bekomme ich noch einen Anruf, mit dem mir eine weiterer gewaltiger Stein vom Herzen fällt.
Ich denke zurück an den vergangenen Samstag, als ich auf meiner einsamen, verregneten Heimfahrt aus dem Tessin nur noch lauter Berge vor mir sah und zwar nicht nur St. Gotthard & Co. “Warum immer wir?”, klagte ich. “Warum ausgerechnet jetzt, wo ich ohnehin am Ende meiner Kräfte bin?” Als ich “Meinen” am Montag zitternd und schwankend in die Ambulanz einsteigen sah, fühlte ich mich einsamer als je zuvor. Wie sollte ich das Ganze ohne ihn schaffen, wo wir doch zu zweit schon an unsere Grenzen stossen?
Heute habe ich erfahren, dass ich es nicht alleine schaffen muss. Ich bin umgeben von Menschen, die alle ihre eigenen Grenzerfahrungen gemacht haben und die darum um meine Überforderung wissen. Menschen, vor denen ich mich nicht zu schämen brauche, auch wenn ich beim Anblick unseres derzeitigem Durcheinanders vor lauter Scham im Boden versinken könnte. Ja, es war mir unendlich peinlich, dass sie mein Chaos in all seiner Pracht gesehen haben und doch habe ich heute seit einer gefühlten Ewigkeit wieder einmal richtig aufgeatmet.