Eine schrieb mir folgenden Brief: „Vor rund einem Jahr hatte ich mich Hals über Kopf in einen unbekannten Mann verliebt. Aus dem Nichts heraus wurde ich von Gefühlen überwältigt, die ich mir nicht erklären konnte. So schrieb ich diesem Mann und gestand ihm meine Liebe. Darauf kam es zu einem Treffen. Als er erfuhr, dass ich verheiratet bin, verabschiedete er sich wieder aus meinem Leben. In den folgenden Monaten herrschte bei mir Ausnahmezustand und ich litt unter ambivalenten Gefühlen. Was war bloss los mit mir? Wie kam es, dass ich mich in einen fremden Mann verlieben konnte und dauernd an ihn denken musste? Hatte ich mich in ein Hirngespinst verrannt?
Nachdem ich meinem Mann die ganze Sache erzählt hatte, brach die grosse Krise in unserer Ehe aus. In dieser schmerzlichen Zeit erfuhren wir beide die heilende Kraft der ehrlichen Auseinandersetzung. Wie lange hatten wir nicht mehr miteinander geredet, wie lange nicht mehr miteinander geschlafen! Wir fanden heraus, dass wir beide über Jahre still gelitten hatten. Jetzt kann ich sagen, dass uns diese Krise in eine bessere und offenere Partnerschaft geführt hat. Mein Mann ist aufgeblüht und ich geniesse meine gestärkte Weiblichkeit. In letzter Zeit drängen sich jedoch wieder vermehrt Gedanken an diesen Mann in meinen Kopf und ich habe das Bedürfnis, ihn zu sehen. Ich vermisse ihn immer noch und manchmal denke ich, dass ich ihn tief drinnen in meinem Herzen auf eine ganz bestimmte Art liebe. Es ist ungerecht meinem Mann gegenüber und doch fühle ich für ihn nicht dasselbe, wie für diesen Unbekannten. Ich kann mir meine irrationalen Gefühle nicht erklären. Wie komme ich nur los von ihm?“
Liebe Frau S. Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Mut. Wie es Ihnen und Ihrem Mann gelungen ist, diese Krise anzunehmen und als Paar wieder lebendig zu werden, ist stark und verdient grossen Respekt. Ich kann mir vorstellen, dass Sie Schuldgefühle plagen und Sie sich schämen, weil Sie glauben, Ihren Mann ungerecht zu behandeln. Dass Sie Ihre Gefühle für den Unbekannten und für Ihren Mann miteinander vergleichen, ist menschlich. Dennoch, nehmen Sie Abstand davon, das sind zwei Paar Schuhe. Sie lieben und begehren Ihren Mann. Gleichzeitig will Ihr Herz auch diese andere Liebe fühlen, und Sie sind herausgefordert, das auszuhalten, ohne es zu verstehen oder zu bewerten. Der Fremde berührt einen Teil in Ihnen, der sich nach Liebe und Angenommensein sehnt. Vielleicht geht es um das kindliche Mädchen in Ihnen, das vom Vater (endlich einmal?) in die Arme genommen werden möchte. Das wäre zutiefst menschlich – und im Kern gleichzeitig ein Stolperstein. Es ist verhängnisvoll zu glauben, irgendein Partner könnte einem tief im Herzen umfassend begegnen. Damit überfordern wir die Liebesbeziehung. Sie stehen vielmehr vor der Lerneinladung, auch das Alleinsein und das schmerzliche Alleingelassenwerden in der Vergangenheit als grundlegende Dimension Ihrer Existenz anzunehmen.
Meine Antwort ist paradox: Sie kommen los von diesem Fremden, indem Sie sich das, was er in Ihnen berührt und wonach sich ein Teil in Ihnen sehnt, zu fühlen erlauben. Vielleicht zünden Sie sich von Zeit zu Zeit eine Kerze an, um für einen bewussten Moment mit sich und Ihren Gefühlen zu verweilen, ohne daran etwas zu ändern. Und prüfen Sie, wie viel davon Sie Ihrem Mann erzählen, beziehungsweise was davon Sie in Ihr ganz persönliches „Schatzkästchen“ legen möchten. Es ist legitim, auch in der Partnerschaft eine Privatsphäre zu pflegen.“