“Ich lasse mich am liebsten treiben.” Interview mit Helge Timmerberg

Von Berndschwer @berndschwer

Vor kurzem hat Helge Timmerberg African Queen veröffentlicht, eine Erzählung über eine siebenmonatige Afrika-Reise. Derzeit ist er damit auf Lesetournee (Termine postet er ab und an auf seiner Facebook-Seite). Den “wildesten und gnadenlosesten Reiseschriftsteller Deutschlands” nannte ihn der Moderator seiner ersten Lesung in Hamburg, im Literaturhaus. Sibylle Berg sagte über Helge Timmerberg: ”Den ersten richtig großen und tiefen Neid empfand ich, als ich Helge Timmerberg kennenlernte. Er war in meiner Generation der beste Schreiber Deutschlands und der freieste Mensch, den ich jemals getroffen habe.” Beide haben sie recht. Kein Schreiber, wie er sich selbst nennt, schreibt offener, klüger, witziger und intelligenter übers Reisen als Helge Timmerberg. Ich wollte von ihm wissen: Helge, wie reist du eigentlich? Das Interview führten wir im Hamburger Hotel Wedina.

Helge, beschäftigst du dich vor einer Reise intensiv mit einem Ziel?
Nein, eher nicht. Ich möchte vorher eigentlich so wenig wie möglich wissen. Wenn das überhaupt geht. Bei mir ist das mittlerweile ja schwierig. Ich kenne halt schon wahnsinnig viele Orte. Indien zum Beispiel: Als ich das Indien-Buch („Shiva Moon“) gemacht habe, da kannte ich schon alles, weil ich schon tausendmal dort gewesen war.

Liest du viel über deine Reiseziele?
Nein, ich lese da nichts. Viel lieber rede ich mit Leuten. Für das „African Queen“-Buch habe ich mit Freunden geredet, die eine starke Beziehung zu Afrika haben. Zum Beispiel mit einem Freund, der zehn Jahre im Senegal gelebt, dort als Tennislehrer in einem Ferienclub gearbeitet hat.  Er hat mir den Senegal vorgestellt. Und mit ihm war ich vor dieser Reise schon einmal im Senegal.
Aber selbst wenn man was liest: Wenn du dann dort bist, kommen ganz andere Informationen. Du triffst andere Leute. Du triffst ja die Menschen, die zu dir passen, sonst würdest du gar nicht mit denen reden.

Wie intensiv planst du eine Reise? Zum Beispiel diese sieben Monate für das Afrika-Buch?
Eigentlich lasse ich mich am liebsten treiben. Ich weiß aber selbst nicht, ob das gut ist, ob ich das wirklich empfehlen kann. Was Afrika angeht, dazu haben mir Kenner gesagt: Es geht im Grunde gar nicht anders, in Afrika kannst du nicht anders reisen. Sich treiben lassen, das heißt natürlich auch: Du akzeptierst das, was gerade da ist.  

Also lässt du alles auf dich zukommen?
Über ein paar reisetechnische Fragen habe ich mich vorher schon schlau gemacht: Welche Überlandrouten gibt es, zum Beispiel? In Westafrika kommst du ja nicht durch, da sind viele Länder dicht. Das geht nur in Ostafrika, von Kairo bis Kapstadt, da gibt es eine Route.
Aber eigentlich lasse ich gern alles auf mich zukommen. Also rein und bumm! und gucken. So kam ich nach 30 Jahren wieder nach Kairo. Ich hatte keine Erwartungen an die Stadt – und dann gefiel es mir dermaßen gut.

Warum?
Kairo war ganz, ganz stark. Ich habe mich irrsinnig wohlgefühlt. So richtig erklären kann ich das gar nicht. Das ist eine arabisch-orientalische Metropole. Die Altstadt, der Basar, da ist vieles original erhalten. Da wäre ich am liebsten sehr lange geblieben. Das hatte einen ungeheuren Sog.  

Mal banal gefragt: Du kommst irgendwo an, wie findest du ein Hotel oder eine Herberge? Wie gehst du vor?
Ich tendiere dazu, immer wieder dort hinzugehen, wo ich mal eine gute Zeit hatte. In Kairo wäre das, wenn ich allein gewesen wäre, die „Pension Suisse“ gewesen, wo ich damals vor 30 Jahren untergekommen war.
Bei dieser Reise hat mir Lisa alles abgenommen. Ich habe mich um nichts gekümmert. Sie ging ins Internet, hat sich die Hotels, die Fotos, die Preise angeschaut. Sie war wie eine Managerin. Und sie hat es meistens sehr gut getroffen. Ich bin einfach nur mitgefahren.

Und ohne Lisa …?
Wenn ich sonst allein reise, weiß ich genau, in welche Hotels ich gehe. Ich kenne das einfach. Und dann das Internet: Das ist für uns Reisende ja eine andere Dimension. Da besorgst du dir alles einfach eine Stunde bevor du es brauchst. Den Safariveranstalter für die Serengeti haben wir auf der Anreise noch besorgt.
Es ist alles so easy geworden. Früher hast du die erste Nacht oft in einer Scheiß-Herberge verbracht, weil du dich nicht auskennst. Dann bist du den ganzen ersten Tag herum gelaufen und hast dir was gesucht. Die erste Nacht, die brauchtest du zum Ankommen. Aber jetzt mit Internet, alles total easy.

Hörst du auf Empfehlungen, auf Tipps von Freunden?
Natürlich. Auf Freunde, deren Geschmack ich kenne. Aber das kommt relativ selten vor.

Wenn du auf einer Reise nicht arbeitest, nicht recherchierst und du bist in einer fremden Stadt: Wie sieht da dein Tag aus? Was unternimmst du?
Zwei Fragen stelle ich nicht mehr: Wo sind eure Sehenswürdigkeiten? Und: Wo ist es bei euch am schlimmsten? Das interessiert mich nicht mehr. Etwa in Nairobi in die Slums zu gehen, das finde ich affig.
Nein, ich gehe einfach spazieren. Ich suche mir einen netten Tea-Shop. Da kann ich dann stundenlang sitzen. Die Straße und die Leute beobachten, so mache ich das am liebsten. Die Dinge rollen lassen. Ich muss dann auch mit niemanden reden.Das war auf der Afrika-Reise wieder in Kairo am stärksten. Die haben dort eben diese Straßen- und Basar- und Teehauskultur. Jeden Tag saß ich da mindestens zwei Stunden und habe nur geschaut. Eine alte Erfahrung: Die Geschichten kommen immer an, wenn du sie am wenigsten suchst. Du sitzt irgendwo, du ruhst irgendwie in dir selber, du bist vielleicht schon drei oder vier Tage an diesem Ort – dann kommen die Leute wie von selbst und die Geschichten ebenso.
Ich muss allerdings sagen: Je älter ich werde, desto schwieriger wird es, sich noch überraschen zu lassen.

Du schreibst gleich am Anfang „African Queen“, du fühlst dich „überreist“. Ist das der Grund?
Früher waren die Erwartungen, die ich an eine Reise hatte, ja ganz andere. Mit 17 Jahren nach Indien, da war klar: Ich beginne jetzt ein neues Leben. Tschüß, ich werde Sadhu. Doch in all den Jahren machst du eine zentrale Erfahrung: Du kommst immer wieder zurück. Deine Erwartungen und Hoffnungen, das wird  immer kleiner. Was an sich auch ganz schön ist, denn du lässt dich wieder überraschen.

Fühlt sich so Reisemüdigkeit an?
Ja sicher. Schau, ich bin jetzt 60. Die Fitness lässt nach. Reisen ist hin und wieder ja ziemlich anstrengend. Man neigt auch langsam ein wenig zur Gemütlichkeit. Man darf das auch, finde ich. Man muss seinem Alter entsprechend reisen. Heute suche ich mir gute Hotels aus. Diese Herbergen von früher: nee, lieber nicht mehr. Das ist natürlich eine Geldfrage, aber man hat ja auch etwas mehr Geld in der Tasche.
Doch in Kairo drehte sich das dann wieder ins Gegenteil.

Was geschah in Kairo?
Es geht um dieses Erlebnis in der Moschee, das ich am Schluss des Buches beschreibe. Ich ging nach meinen Moscheebesuchen durch die Stadt, durch den Basar – und habe mich wieder gefühlt wie mit 17 Jahren. Kürzlich ist mir dazu etwas wieder eingefallen, das ich in Indien erfahren habe. Es gibt dort Bettelorden, die ihren Mönchen verbieten, länger als drei Tage an einem Ort zu bleiben. Die Bettelmönche sollen ihre Seele nicht daran gewöhnen, irgendwo anders heimisch zu werden als in sich selbst. Oder in Gott, wie immer man das nennen mag.

Wie bist du wieder auf diesen Gedanken gekommen?
Ich neige ja zu Extremen. Entweder fühle ich mich allein komplett verloren.   Dann hadere ich: Was will ich bloß hier? Ich möchte nach Hause –  ich bin da schon anfällig für Depressionen. Oder es macht klick, und ich habe mich gefunden. Bin saustark, bin in diesem Nomadentum ein autonomes Wesen. Fühle mich völlig rund und stärker als zu Hause. Zu Hause kannst du alles verlieren, die Freunde, die Frau, das Zuhause selbst. Wenn du aber mit dir selbst so im Reinen bist, kannst du nichts verlieren. Und bei diesem Gedanken fielen mir die Bettelmönche wieder ein.

Kannst du dir erklären, wann du dich verloren fühlst und wann stark?
Manchmal bist du einfach schlecht in Form. Oder die Umwelt macht dich fertig. Am schlimmsten ist es, wenn du nachts irgendwo landest, der Taxifahrer bringt dich in einen Schuppen, und dann sitzt du da mit den Kakerlaken. Oder du landest in einem dieser Mittelklassehotels, die keine Atmosphäre haben, nur kalt und leer sind. Dann musst du es schaffen, die Fixierung auf dich selbst wieder loszulassen. Ich habe eine große Hilfe: ich meditiere. Seit 40 Jahren meditiere ich jeden Morgen eine Stunde. Der Tag fängt also immer gut an. Wenn ich das auch abends auch machen würde, wäre auch der Abend gerettet. Aber bei mir heißt es: morgens meditieren, abends kiffen. Trotzdem: Wenn ich mich scheiße fühle, habe ich diese Geheimwaffe, die Meditation.

Wie arbeitest du unterwegs? Hast du ein Notizbuch dabei?
Hab ich dabei, aber ich schreibe fast nie was rein. Beim Indien-Buch „Shiva Moon“ habe ich in sieben Wochen zwei Sätze reingeschrieben. In Afrika auch: nichts, null. Was mich berührt, das vergesse ich nicht mehr. Und was mich nicht berührt, brauche ich auch nicht. Was soll ich über Dinge schreiben, die sich bei mir nicht belichtet haben?

Helge Timmerberg im Hotel Wedina, Hamburg.

Fotos: bs/tourististan