Christoph Baumgarten (Foto: Herwig-Harkan Mader)
Die Marktwirtschaft, so heißt es, ist unser aller Segen. Sie versorgt uns verlässlich mit den Gütern, die wir brauchen oder wollen. Zu einem fairen Preis. Freiheit bringt sie obendrein. Ich begebe mich ungeplant auf die Suche nach den Grenzen dieser vielbeschworenen Freiheit.
In Wien hat es mehr als 30 Grad. Ein Leinenhemd, beschließe ich, das wär’s. Ein weißes. Die ideale Garderobe für dieses herrliche Sommerwetter, das auch seine Schattenseiten hat. Wenn man keine geeignete Bekleidung hat. Was sich mit dem weißen Leinenhemd erübrigen würde, das sich immer deutlicher vor meinen Augen abzeichnet. Das will ich und sonst nichts. Ich beschließe, mich nach der Arbeit auf die Mariahilferstraße zu begeben und ein solches zu erstehen. Kein sonderlich aufwändiges Unterfangen. Die nächste U-Bahn-Station bei meinem Büro liegt auf dieser Straße, auf der sich Geschäft an Geschäft reiht. Besonders Bekleidungsgeschäfte.
Ich hätte an dieser Stelle zu einer Konsumismus- und Kapitalismuskritik anheben und mir die Sache aus dem Kopf schlagen können. Einige Leinenhemden hängen ja in meiner Garderobe. Es ist mir auch bewusst, dass das Verlangen nach einem weiteren, einem weißen obendrein, nicht allein auf das Wetter geschoben werden kann. Die Prägung, zuallererst Konsument zu sein, die ist auch in mir tief drinnen. Man bewegt sich nicht 34 Jahre lang in einer kapitalistisch geprägten Gesellschaft ohne selbst von ihr geprägt zu werden. Selbst bei einem relativen Verweigerer wie mir, der ohne Mikrowelle, Wäschetrockner und i-pad durchs Leben schreitet. Ich habe sogar eine relativ gute Vorstellung, welche Mechanismen am Werk sind, die mir dieses Objekt meiner Begierde so eindrücklich vor Augen führen. Allein, dass ich das weiß, macht mich nicht automatisch immun dagegen. Ich weiß ja auch rudimentär, wie ein Influenza-Virus eine Grippe im menschlichen Körper auslöst. Kriegen tu ich sie trotzdem.
Das wohlsortierte Chaos
Meine Beine führen mich in den nächst gelegenen Tempel des Konsumismus. Peek und Cloppenburg auf der Mariahilferstraße kann man beim besten Willen nichts anderes nennen. Im Erdgeschoss links die nicht ganz so teure Herrenabteilung. Schilder mit dem Schriftzug SALE überall. Hemd hängt neben Hemd oder liegt auf ihm. Je nachdem, ob es um Kleiderständer geht (oder nennt man die hier Hemdständer?) oder Regale und Wühltische. Hemden, T-Shirts, Polos. Tausende. Buchstäblich. In nahezu allen denkbaren Farben, Formen und Größen. Marktwirtschaft, wie sie leibt und lebt. Man fragt sich, wer das alles kaufen soll und wie viel am Ende der Saison nicht verkauft sein wird. Aber das ist das Problem von Peek und Cloppenburg. Ich will hier nur ein weißes Leinenhemd kaufen.
Mein Problem ist eher: Ich verliere zwischen Ständern und Regalen langsam die Orientierung. Abgesehen davon, dass ich seit mittlerweile fünf Minuten nichts gesehen habe, was aussieht wie ein Leinenhemd. Und abgesehen davon, dass das Verkaufspersonal tut, was es in einem Konsumismustempel am besten tut. Es versteckt sich oder ignoriert meine hilfesuchenden und ratlosen Blicke. Ich ertappe mich bei der Überlegung, ob ich ein Mitglied des Personals bestechen sollte, um etwas Hilfe zu bekommen. Einzig kühl ist es hier. Das ist angenehm.
Lektion eins: Läden sind nicht für die Kunden da
Irgendwann finde ich unter tausenden von Hemden einen einsamen Ständer mit Leinenhemden. Bestenfalls dreißig Stück sind drauf und keines in Weiß. Vielleicht, denke ich mir, gibt es einen zweiten. Vielleicht habe ich ihn übersehen. Wäre es ein Wunder in diesem wohlgeordneten Chaos, das man offensichtlich nur geschaffen hat, um Kunden zu verwirren und sie dazu zu bringen, das Haus mit etwas anderem zu verlassen, als sie eigentlich haben wollten? Vorzugsweise mit mehr und teurerem? Man sollte bitte nicht der Illusion verfallen, diese Läden seien für den Kunden da und nicht für sich selbst. Nur im äußerst spärlich eintretenden Idealfall, so wird mir klar, werden sich die Interessen beider treffen.
Nebenan, im Kaufhaus Gerngross ist es dasselbe in Hellblau. Die Filiale von ZARA hat weiße Hemden. Die sind aus Baumwolle. Leinen? Pech gehabt. Um das herauszufinden, muss ich in den ersten Stock hinauf, von dem mir als Mann auch nur die Hälfte zur Verfügung steht. Im Geschäft einen Stock drüber haben sie EIN WEISSES LEINENHEMD. Nur eine Größe zu groß. Frustiert nehme ich ein hellblaues. Die Verkäuferin weist mich freundlich darauf hin, dass das Hemd normal geschnitten sei und nicht “slim fit”. Ich fühle mich geschmeichelt.
Lektion zwei: Männer sind im Kleiderhandel Kunden zweiter Klasse
Eine H&M-Filiale liegt direkt gegenüber. Wieder ist die Männermodenabteilung in den ersten Stock verbannt. Den muss sie sich wieder mit der Kinderabteilung teilen. Weiße Baumwollhemden, kein Problem. Allein, Leinenhemden? Ich traue mich nicht, die Verkäufer zu fragen. Sie sehen so jung aus. Sie haben den Ausdruck vermutlich nie gehört. Ich will sie nicht überfordern.
Zurück auf die andere Straßenseite. Eine Filiale von, was war’s noch mal? Jedenfalls sozusagen der Direktvertrieb eines Modelabels. Rauf in den ersten Stock, wie könnte es anders sein. Im Kleiderhandel ist man als Mann Kunde zweiter Klasse. Dafür kosten die Teile eben mehr. Wieder nichts.
Zwanzig Meter weiter eine weitere Filiale eines weiteren Labels. Meine Abteilung – erraten – im ersten Stock. Kein Leinenhemd.
Lektion drei: Es geschehen noch Zeichen und Wunder
Ich nehme den Rest meiner rapide schwindenden Kräfte zusammen, Konzentration inklusive. Es gelingt mir etwas, das ich bei nüchterner Betrachtung nur als Wunder bezeichnen kann, so außergewöhnlich scheint es, so völlig außerhalb der Lebenserfahrung des gemeinen Konsumenten, ja seiner kühnsten Träume. Ein hier berufstätiges Wesen bequemt sich, meine mittlerweile mit Sicherheit miserabel wirkende Existenz überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Ja, dieses Wesen beantwortet sogar meine Frage. Nein, Leinenhemden habe man heuer keine gekriegt. Ich möge es bitte beim H&M versuchen. Besser noch beim Peek und Cloppenburg. Ich kann mich in letzter Sekunde davon abhalten, das hier berufstätige Wesen an Ort und Stelle zu erwürgen.
Die nächsten Läden und einige tausend zumindest oberflächlich gesichtete Hemden später ändert sich nichts an dem Zustand. Sofern ich das Glück habe, dass ein weiteres dort berufstätiges Wesen auf heftiges Insistieren hin von meiner Nichtswürdigkeit Notiz nimmt, höre ich immer das Gleiche: Leinenhemden?! Weiß?! Da könnt ja jeder kommen. Einmal schwingt ein verständnisvolles Bedauern mit. Heuer von den Kollektionen gestrichen. Einfach so. Dafür nächstes Jahr wieder. Nur vereinzelt, mit viel Glück, kriegt man noch so etwas. Der freundliche Verkäufer ist augenscheinlich ein paar Jahre älter als ich und kann wahrscheinlich nachvollziehen, wie’s mir geht. Das hilft einen Moment lang und stürzt mich einen Augenblick später in eine nahezu existenzielle Krise. Bin ich so alt, dass ich nach etwas suche, das offenbar sonst niemand haben will? Oder von Haus aus so altmodisch? Immerhin, so lernt man in der Schule, stellt die Marktwirtschaft uns Kunden ja immer das vor die Nase, wonach unsereins verlangt. In gewissen Maßen natürlich. Für den Wunsch eines einzelnen Kunden wird kein Bekleidungshaus dieser Welt eine Kollektion weißer Leinenhemden entwerfen. (Nicht weitersagen: Ich hätte auch eines aus der Vorjahreskollektion genommen.)
Ich fühle mich alleine, zutiefst erschöpft und der Frust weckt Aggressionen.
Lektion vier: Weiße Leinenhemden gibt’s trotzdem nicht
Allein, ich kann mir sicher sein: Ich war heuer nicht der einzige, der ein weißes Leinenhemd kaufen wollte. Man hat einfach nicht genug produziert. Mitte Juli und alle weißen Leinenhemden sind ausverkauft. Kundenwunsch hin oder her. Hand aufs Herz, so exotisch war der auch wieder nicht. Ein klassischer Fall von Unterproduktion. Fehlkalkulation. Das sollte einen Kenner des kapitalistischen Systems nicht weiter überraschen (womit auch keine automatische Überlegenheit der Planwirtschaft postuliert werden soll). Das System funktioniert eben anarchisch. Es war mit Sicherheit keine Verschwörung der Textilindustrie gegen mich. Es war einfach Pech, von meinem Standpunkt aus gesehen. Schlechtes Management von einem anderen. Mit Sicherheit kein Einzelfall. (Leidensgenossen, wo seid ihr?)
Was mich zur Frage bringt, was ich als Konsument von der Marktwirtschaft habe. Es hängt ja doch vom Glück ab, ob ich das, was ich will, bekomme. Die Auswahl an zehntausenden Hemden hilft mir nicht weiter. Ich will ein ganz bestimmtes Modell, einen Klassiker der Sommerbekleidung für Männer. Gibt’s nicht, haben wir nicht. Ist gut aber aus. Mitte Juli, wie gesagt.
Nächstes Mal werde ich im Jänner versuchen, so etwas zu erstehen, wenn sie die letzten nicht verkauften Wintermäntel als humanitäre Gabe in die Sahara schicken und die Sommerbekleidung ins Regal stellen. Vermutlich muss ich dankbar sein, dass ich nicht schon in den Wintermoden-Schlussverkauf geraten bin.
Die Mär vom mündigen Konsumenten
Ich kann nicht einmal die Aufgabe als Konsument erfüllen, die mir die ach so gepriesene Zivilgesellschaft zu- und vorschreibt und mir Marktforschung, Politik und Industrie vor die Nase halten wie dem Esel die Karotte. Wo konnte ich hier als verantwortungsbewusster, mündiger Käufer auftreten? Wo konnte ich Leistung, Qualität und Preis gegeneinander abwägen? Wo Bedacht nehmen auf die Produktionsumstände von Rohstoffen, Stoffen und Endverarbeitung?
Ich hätte gerne geurteilt, ob die Leinen am Acker glücklich waren und sie der Bauer liebevoll mit der Hand geerntet hat, Strang für Strang, und ob ich mir das leisten könnte. Oder ob ich einen Beitrag gegen Kinderarbeitslosigkeit in Bangladesh leisten will und mit diesem zweifelsohne kleinen Obolus auch noch die Architekten mitfinanzieren, die die bald zusammenbrechenden Fabriken neu bauen müssen. (Halt: Werden die überhaupt von Architekten gebaut?) Womit wiederum die Baustoffindustrie in diesem kleinen, überbevölkerten Land angekurbelt wird. Was den Eltern der mittlerweile nicht mehr arbeitslosen Kinder zugute kommt. Man ist halt ein sozialer Mensch.
Andererseits: Will ich die Regierung in Bangladesh unterstützen, die sich auf ein Parlament stützt, dessen Mitglieder zu einem guten Teil Textilfabrikanten sind?
Das beste Angebot wählen? Unmöglich
Wobei, ehrlich gesagt: Nicht mal mit zehn weißen Leinenhemden mit zehn verschiedenen Markennamen drauf hätte ich diese Entscheidung treffen können. Die gesetzlichen Deklarationspflichten ermöglichen es nach wie vor, dass man die Herkunft eines Kleidungsstücks sehr effektiv verschleiert. Und selbst wenn man das nicht versucht: Wer bitte kann das Kleingedruckte auf den Aufnähern auf der Innenseite lesen? Auch wenn ich das könnte, könnte ich mit einem Großteil der Informationen nichts anfangen. Es gibt auch in Bangladesh oder China Fabriken, unter denen Menschen unter halbwegs erträglichen Umständen arbeiten. Es gibt auch weiter westlich Produktionsstätten, wo das nicht der Fall ist. Noch nie etwas von “sweat shops” mitten in New York City gehört? Ich könnte bestenfalls anhand pauschaler Annahmen urteilen.
Um beim Beispiel mit den zehn Hemden zu bleiben: Würde ich alle oben geschilderten Kriterien (Qualität/Preis/Ökologie/Soziales/Politik/eigenes Bewusstsein/eigene Geldbörse) sorgfältig und eingehend prüfen wollen, so wie ich das als verantwortungsbewusster und mündiger Konsument angeblich dauernd tue, es würde mindestens eine Woche dauern, bis ich alle relevanten Informationen zusammengetragen und zumindest halbwegs bestätigt hätte. Vorher könnte ich seriöserweise nicht behaupten, ich hätte das zumindest für mich beste Angebot gewählt. Was mir angeblich die Marktwirtschaft, und sie allein, tagtäglich ermöglicht.
Lassen wir beiseite, dass ich in der Zeit, die ich seriöserweise für einen gut informierten Kauf benötigen würde, auch gesellschaftlich produktiv sein, sprich: arbeiten sollte, was einen mittelschweren Zeitkonflikt bedeutet. Auch mein Tag hat nur 24 Stunden. Lasst mich die seit mehr als zwei Jahrzehnten offiziell verketzerte Frage stellen: Was bringt mir das Überangebot außer Sand in den Augen und der Dauer-Versuchung mehr Geld auszugeben, als ich will? Vielleicht niedrigere Preise, auch das ist nicht sicher. Nur, den Preis zahle ich nur zum Teil ich. Den zahlen andere. Kinder aus Bangladesh zum Beispiel. Oder heimische Textilarbeiter, wenn ihre Fabriken geschlossen werden. Gewinnen tun nur die Eigentümer der Fabriken, der Labels und der Handelsketten. Aber das ordentlich. Damit wenigstens irgendwer irgendetwas hat von der Marktwirtschaft.