„Wie wir leben wollen“
(Universal)
Wie konnte das passieren? Nach zwanzig Jahren käuflich dokumentierter Historie darf man diese Frage schon einmal stellen. Wie konnte diese Band, die sich anfangs noch fast schüchtern und kostümiert hinter genuschelten Unmutsäußerungen und mäßig inspiriertem Geschrammel zu verstecken schien, so bedeutend werden? Wie konnten sie so lange durchhalten mit all ihren verzwickten Metaphern, wo man hierzulande doch eher die klare Kante, das Selbsterklärende und Eindeutige liebt, wo jeder am liebsten gleich nach drei umgedrehten Buchstaben das Rätsel lösen möchte. Zwischentöne, Zwielichtiges, Unbestimmbares – alles höchst suspekt, wer kann das brauchen? Die Antwort ist so vielschichtig wie die Zeilen, die Sänger Dirk von Lowtzow seit jeher dem Sound von Tocotronic beigibt, gerade reisen sie wieder „als lebende Leichname“ („Vulgäre Verse“) durch die bestellten Suiten namhafter Hotels und sollen sich erklären.
Vielleicht liegt es ja daran, dass sie irgendwann beschlossen haben, wirklich Musik zu machen, dass sie mehr (Rick McPhail) und akribischer, perfektionistischer geworden sind. Vielleicht liegt es daran, dass sie sich ihren Hörern nicht nur zumuten, sondern ihnen auch zutrauen, mit der Unschärfe, den Wortbildern und den Anrissen umgehen zu können. Zeit ihres Bestehens haben sie den Zweifelnden, den Illusionisten, Unvernünftigen, den ungepanzerten Einzelgängern das Wort geredet und die Zeiten, die so sind wie sie sind, lassen diese nicht weniger werden – wer dazu noch bereit ist, den zweiten Blick zu riskieren, den Kopf zu bemühen, dem bleiben Tocotronic die willkommensten Unterhalter.
Musikalisch ist „Wie wir leben wollen“ nach dem Ende der sogenannten Berlin-Trilogie vielleicht nicht der angekündigte Bruch, natürlich noch mehr Schall und noch mehr Wahn, aber schon aufgrund der Menge an Material vielgesichtiger; die Songs – analog aufgenommen, wie man hört – unterscheiden sich mehr als zuvor voneinander, in ihren Stimmungen, in ihren ungewohnten Instrumentierungen, in der Art, wie nah einem von Lowtzow mit seinem jetzt so wandelbaren Gesang auf die Pelle rücken will, mal drängend und gehetzt, mal beiläufig und verspielt, am Ende verklingt er einfach, unerreichbar.
Kurz ins Detail: Das energisch beschwingte „Hey Hey Hey“ des Eingangsstücks („Im Keller“) ist grandios und neben „Warte auf mich..“ und „Die Revolte…“ eine der bestechendsten und eingängigsten Tanznummern des Albums. Der Countryswing inklusive Steelguitar von „Chloroform“ hat einen gleich im Sack, ebenso die mehr als lässige Bläsergruppe von Ja Panik in „Neue Zonen“. Erneut der Daumen hoch für die Young’sche Elektrifizierung des Titelstücks, für ‚Krach vs. Flötenton‘ bei „Eine Theorie“, die sprichwörtliche Höllenfahrt im gleichnamigen Song und den zackigen Beat fürs „Neutrum“. Mehr als stark „Exil“, gerade und auch wegen der Textzeile „Ich bin krank, ich bin ein weißer heterosexueller Mann, du kannst mich abschieben wenn du willst“, das Meisterstück vielleicht „Warm und Grau“, ein brachiales Crescendo mit bedrohlichem Fadeout.
Es ist sicher keinen Fehler, wenn man an dieser Stelle die Finger von der Interpretation der Texte lässt oder Gedachtes und Zusammengereimtes besser für sich behält – für Wort und Ton gilt gleichermaßen: Das nicht Genannte ist mindestens genauso gut wie das Erwähnte. Soll einen die Vollkommenheit des Albums freuen oder eher ehrfürchtig erschaudern lassen, egal, was sie gemacht haben, haben sie besser gemacht als je zuvor und jede Lobeshymne an diese Band ist berechtigt, der Hype verdient und die Liebe mehr als abbezahlt. Sie könnten in zwanzig Jahren noch so weitermachen, sagte Lowtzow kürzlich, sie würden wahrscheinlich nur etwas anders klingen. Bei den meisten hätte man dies als Drohung verstehen können, von den Vieren nimmt man es als willkommene Prophezeiung. Zweite beste Band der Welt, diesmal ohne Zweifel. www.tocotronic.de