Ich habe nie Menschenfleisch gegessen

Bruno Dillmann kramt in der Schublade von 2001 und  rekapituliert seine Gedanken zu Christian Krachts Zweitling.

Christian Kracht: “1979″, 2001

Kaliash

Ich befürchte, dass man sich in zehn Jahren über diese Art von Literatur lustig machen wird. In der Tat ist ein neues Genre entstanden; eines, dass konsequent auf übliche und “altmodische” Methoden des Geschichtenerzählens verzichtet. Benjamin von und zu Stuckrad-Barre ist hier der mastermind, der den Hoffnungsträgern junger Literatur zeigt, wo es erzählerisch und prosatechnisch lang zu gehen hat.

Regel Nr. 1: Verzichte auf jede Form der Strukturierung, also auf einen plot im eigentlichen Sinne, auf Spannungsaufbau, auf Höhe-bzw. Wendepunkte, auf eine Lösung, ein Happyend oder eine Katastrophe, verzichte auf ein Ende überhaupt, höre einfach auf zu schreiben, wenn dir dein Buch dick genug erscheint, um es vermarkten zu können (ein fehlender Schluss wirkt zudem unheimlich akademisch).

Regel Nr. 2: Die Apotheose des Ich-Erzählers. Unbedingt notwendig, da das Fehlen einer Geschichte auch einen Erzähler im eigentlichen Sinne unnötig macht. Der Ich-Erzähler muss ein völlig neurotisches, arrogantes, aber doch alles erkennendes und treffsicher beurteilendes Arschloch sein (tragisch bei Stuckrad-Barre, dass er selbst die Rolle des Ich-Erzählers einnimmt!). Dabei ist es mir wirklich ein Rätsel, warum diese Typen immer so unglaublich reich zu sein scheinen. Sie werden nicht nur nicht von finanziellen Nöten geplagt, nein, sie sind jederzeit in der Lage, Sportwagen, Champagner und exquisite Kleidungsstücke wie Abfall zu behandeln. Komische Prämisse. Ich glaube, dass hängt zum einen damit zusammen, dass all die Literatur-Pop-Sternchen gerne auch so wären wie ihre Helden und zum anderen, dass es wesentlich schwieriger wäre, Geschichten von ganz normalen Menschen zu erzählen, die eben nicht ständig Ecstasy werfen und wild in der Gegend herumkopulieren, ohne dabei jemals an Arbeit denken zu müssen. Hey hey hey, kann ich den Damen und Herren Literatur-Popstars nur zurufen, wie wärs mal mit ner Story über Menschen, die 99% des real vorkommenden homo sapiens ähneln bzw. gleichen? Nein, höre ich sie antworten, es soll der reiche unnahbare prophetische Schnösel sein. Nun gut.

Regel Nr. 3: Vieles muss sich um Drogen handeln, sehr sehr viele Drogen, möglichst auch Tabletten, und es muss ordentlich gefickt werden, aber bitte ohne Gefühl. Würde ja nicht zu diesen abgeklärten Typen passen, und irgendwie könnte man auf andere Art und Weise auch die Wohlstandsgesellschaftskritik nicht so toll hintergründig verpacken.

Regel Nr. 4: Es wird viel geraucht. Sehr viel. Vor allem der Held muss rauchen. Soll wohl das Neurotisch-Zwanghafte unterstreichen. Gähn.

Regel Nr. 5: Kenne deine großen Vorbilder. Bret Easton Ellis hat wohl 1990 nicht im Traum gedacht, dass er im kleinen Deutschland dermaßen oft kopiert werden würde. Wichtigstes Stilmittel: statt einer Figurencharakteristik tut es auch die Aufzählung der einzelnen Markenartikel, die ein Protagonist am Leibe trägt. Soll wohl das Materialistische und Äußerliche unserer Gesellschaft zeigen. Gähn. Ansonsten noch ein bisserl Houllebecq. Dann passt alles. Im weitesten Sinne gehören in die Gruppe zum Beispiel Sybille Berg, die sich nach ihrem ersten Roman nur noch wiederholt, natürlich “Faserland” von Kracht, Stuckrad-Barre mit Abstrichen (hier kommt ein gewaltiger Schuss Egomanie hinzu), Alexa Hennig von Lange und als weiteres Beispiel Rebecca Casati mit “Hey Hey Hey”, im weiteren Sinne auch Rainald Götzens “Rave”, wenn auch hier wesentlich origineller und visionärer als in den anderen Beispiel. Am Ende stehen also mal mehr oder weniger inspirierte Geschichtchen, die sich eigentlich nur dadurch auszeichnen, ab und zu einen luziden satirischen Blick auf Teile unserer Existenz in der Bunselrepublik zu werfen. Was hat das nun alles mit Krachts Neuling “1979″ zu tun? Vieles und Gott sei Dank wiederum fast nichts. Natürlich finden wir auch hier den obligatorischen Ich-Erzähler, allerdings ist er teilweise von anderer Provenienz als viele seiner Vorgänger aus der Popliteratur.

Ich habe nie Menschenfleisch gegessen

Der Roman spaltet sich in zwei Teile, einzelne Kapitel werden wie in “Faserland” nüchtern von “Eins” bis “Zwölf” durchgezählt. Der erste Teil des Romans spielt aber nicht auf der deutschen Partybühne, sondern in Teheran im Jahre 1979. Die Revolution steht unmittelbar bevor, Panzer rollen, Militärpolizei bestimmt das Stadtbild, deutsche Botschaftsangehörige sind ratlos. Der Ich-Erzähler, beruflich Innenausstatter und sein schwuler Freund Christopher, beruflich Architekt, befinden sich auf einer wohl als Urlaub zu bezeichnenden Reise durch den Iran, wohl vor allem interessiert an speziellen architektonischen Meisterwerken des Landes. Näheres erfährt man dazu aber nicht, auch über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Protagonisten erfährt man kaum etwas. Nur das Übliche: die beide sind wohl extrem wohlhabend, Christopher ist drogenabhängig, ihre Beziehung ist am Ende. Der Kulminationspunkt des ersten Teils ist eine Hardcore-Party irgendwo in einer Luxusvilla in Teheran, während der die zwei Helden zu merkwürdigen Sexpraktiken aufgefordert werden und an deren Ende Christopher gediegen durch die Balkonglastür fällt und infolge seines Drogenkonsums umkippt. Der Ich -Erzähler verbringt ihn daraufhin in ein versifftes Teheraner Spital, in dem Christopher ohne viel Aufhebens stirbt.

“Irgendwann in der Nacht starb er. Sein Mund war geöffnet, ich versuchte ihn zu schließen.”

Typisch Popliteratur: Gefühle finden hier kaum statt. Große Trauerszenarien haben keinen Platz. Insgesamt wirkt die Erzählhaltung äußerst, ja, brutal sachlich. Auf Ausschmückendes wird verzichtet, Emotionen auch in der Stilistik konsequent vermieden. Der Eindruck äußerster Trostlosigkeit ist das Grundthema des Romans. Viele Parallelen zur Popliteratur, aber ganz so einfach ist es dann doch nicht. Der Ich-Erzähler lernt nämlich auf der Party einen merkwürdigen Rumänen kennen, dessen Name Mavrocordato an Mephisto erinnern könnte. Er wird als Leiter und Deuter zu einer Hermes-Figur für den Ich-Erzähler. Mavrocordato prognostiziert diesem noch auf der Party, dass er “in Kürze halbiert werden” würden. Der Ich-Erzähler gibt seiner ganzen Orientierungslosigkeit auch selbst Ausdruck:

“Was ist das Jungsein? …Bin ich eine alte Seele? Wo ist alles hin ? Warum geht alles so schnell? Wo sind die Jahre hin? … Wo sind meine Muskeln hin? Was ist es, das Leben ? Und wie wird es besser?..”

Nur scheinbar drückt sich hier das banale Fragen nach dem Sinn des Lebens aus. Kracht gestaltet differenziertere Sphären, in denen die scheinbar einfachen Fragen Tiefe gewinnen und der Reflektion bedürfen, auch wenn sie nach außen banal wirken mögen. “Irgendetwas muss sich ändern”. Dessen ist sich der Ich-Erzähler bewusst, die nötige Orientierung, was und wie und wo er sich verändern muss, gibt ihm der große Unbekannte Mavrocordato. Und spätestens an diesem Punkt ist der Roman dann weit entfernt von den MTV-Stories der Pop-Fraktion. Ohne jede weitere Erklärung wird der Ich-Erzähler aufgefordert, nach Tibet zu reisen, um den heiligen Berg Kailasch der in vielen Religionen als das Zentrum des Universums gilt, “im Urzeigersinn zu umkreisen”. Die Umkreisung des Berges (besonders, wenn sie auf bloßen Knien geschieht), soll laut Mavrocoradto etwas “Großes” sein, eine Tat, die geeignet sei, “das aus den Fugen geratene Gleichgewicht wiederherzustellen.” Die Reaktion des Ich-Erzählers:

“Das klingt ja völlig dämlich”.

Weiteren Fragen weicht Mavrocordato aus, indem er seinen neuen Freund Chips aus der Küche holen lässt. Der Roman wird rätselhafter, der Gehalt immer hermetischer verkapselt. Als Leser fragt man sich ängstlich, ob man den tieferen Sinn nicht erkennen soll oder man einfach zu dumm ist, ihn zu erkennen. Der zweite Teil des Romans spielt in China. Der Ich-Erzähler lässt sich tatsächlich auf das Unternehmen ein und umrundet, zunächst noch auf seinen teuren Designerschuhen, den heiligen Berg Kailash in Tibet. Zunächst allein, dann mit einer humoristisch gezeichneten Gruppe ansässiger Pilger auf den Knien. Feine Ironie ist zu spüren, wenn Kracht beschreibt, wie der Ich-Erzähler hierin eine sinnvolle und erfüllende Tätigkeit erblickt. Zeit also für eine neue, unerwartete Wendung: Chinesisches Militär taucht auf, verhaftet den Protagonisten und steckt in eine Art Umerziehungslager der Volksrepublik China. Danach wird er in ein Arbeitslager im Gebiet der Wüste Lop Nor gebracht, wo er und andere Gefangene unter entwürdigenden und unmenschlichen Umständen zum Arbeitseinsatz gezwungen werden. Zudem testet die chinesische Armee in unmittelbarer Nähe ihre Atomwaffen. Das eigentlich Erstaunliche ist, dass der Ich-Erzähler keineswegs verzweifelt wirkt. Ganz im Gegenteil. Weiterhin auf äußerst sachlicher Ebene schildert er die Ereignisse seiner Gefangenschaft. Nüchtern berichtet er von den als “Selbstkritik” getarnten Folterstrafen durch die Rotarmisten. Glänzend dann die lapidar hingeworfenen Äußerungen zur katastrophalen Ernährungslage:

“Wir bekamen …nichts zu essen, ab und zu befühlte ich, stehend eingekeilt zwischen den anderen Häftlingen auf der Ladefläche, meine Rippen und die Hüftknochen, die endlich, endlich weit vom Körper weg heraustraten, wie ich es immer schon gewollt hatte. Ich dachte… daran, dass ich mich immer zu dick gefühlt hatte, und ich war glücklich darüber, endlich seriously abzunehmen. Das hatte ich ja nie geschafft; ein, zwei Kilo hatte ich mir früher herunterhungern können, aber jetzt waren schon mindestens zehn oder zwölf Kilo weg. Gott sei Dank.”

Diese groteske Äußerung, angesichts einer mörderischen Gefangenschaft in einem fremden, von der westlichen Welt völlig abgeschnittenen Land ist meiner Meinung nach die stärkste Stelle des Romans. Absurd, wie selbst im Moment existentieller Bedrohung der Körperwahn noch von Bedeutung ist, das Abnehmen als positive Folge von Folter und Gefangenschaft gelobt wird. Ich will nicht herumrätseln, für wen oder was dieser Ich-Erzähler parabolisch existiert, auf jeden Fall hat dieser Mensch in der Absurdität und dem Zurückgeworfensein auf Existenzielles Sinn gefunden. Keine einzige Äußerung, kein einziger Wunsch nach Befreiung, nach Rückkehr. Ganz im Gegenteil: am Ende wird fachmännisch und buchhalterisch erläutert, wie man im Gefangenenkot gezielt Maden züchten kann, die man dann als Proteinspender verzehrt. Die Maden-Kot-Diät. Freiwillige Blutspende, freiwillige “Selbstkritik”, freiwilliges Spiel nach den “Regeln”: das Absurde ist Ziel – und Fluchtpunkt.

Christian Kracht hat offensichtlich das Potential, mehr als ein paar Party-Stories aus Deutschland zu erzählen. Der brutal nüchterne Sprachstil und der groteske Inhalt von “1979″ enthalten mehr Fragen als alle Machwerke von Stuckrad-Barre zusammen. Fraglich dabei ist nur, inwieweit diese doch hermetisch wirkende Gedankenwelt dem Leser etwas zu sagen hat. Ich glaube: sie hat.

“Ich war ein guter Gefangener. … Ich habe mich gebessert. Ich habe nie Menschenfleisch gegessen.”

Bruno Dillmann

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