Die Frage war: was machte es dort? Wurde es vergessen? Meine Neugier ließ sich nicht verdrängen und ich schnappte es mir unauffällig, um es zu mustern. „The only sin“ von Julie Ellis, ein englischer Roman. Der Rücken schon recht zerschlissen, mit deutlichen weißen Striemen. Beim Aufschlagen entdeckte ich einen Zettel, ebenfalls auf Englisch. Darauf stand so viel wie: „Dieses Buch wurde freigelassen. Es wurde nicht verloren und wartet auf einen neuen Besitzer“, darunter die Internetadresse www.bookcrossing.com - eine weltweit agierende Online-Gemeinschaft zum Tauschen und weitergeben gelesener Bücher. Wo dieses Buch wohl schon war? Die Seiten sind rau und vergilbt. Auch hat es einen Wasserschaden, denn die rechten unteren Ecken der Seiten sind leicht wellig und noch ein Stück vergilbter als der Rest des ohnehin schon mitgenommen aussehenden Buches. Vielleicht ist der Vorbesitzer in einen Regenguss gekommen, oder lag am See während Wasser spritze – vielleicht ist auch nur Limo darüber gelaufen. Dieses Buch erzählt definitiv eine Geschichte, nein zwei.
Und da war es wieder, dieses Gefühl. In eine Welt einzutauchen, während das rege Treiben um mich herum verschwimmt. Während Seite für Seite umgeschlagen wird, der Geruch alten Papieres in meine Nase dringt und die schwarzen Buchstaben Satz für Satz einen kleinen Film in meinem Kopf kreieren. Kein iPad und kein eBook können da mithalten. Ich bin mir sicher, dass Bücher auch in Jahrzehnten noch immer in unseren Händen ruhen werden, wo sie doch eine der größten Errungenschaften der Menschheit sind. Mein neues, altes Buch besitzt eine Identifizierungsnummer, die ich zu Hause auf der angegebenen Website eingetragen habe. Nun bin ich der offizielle Finder dieses Werkes – ich habe es adoptiert. Nach kostenloser Registrierung kann ich nun sehen, wo es überall war, wer es gelesen hat und wie es bewertet wurde. Genauso kann der Vorbesitzer verfolgen, wo und bei wem es gelandet ist. Die Datenbank zeigt mir sechs Einträge, mein Buch ist doch schon recht gut herumgekommen. So wurde es scheinbar aus Großbritannien mit nach Deutschland gebracht und passierte einige deutsche Städte, wobei es zuletzt in eben jenem Café in Leipzig ankam, in dem ich mich zufällig am Wochenende befand. Bookcrossing gibt es also weltweit in nahezu allen Ländern der Erde. Diese sind auf der Website eingetragen und der Jäger und Sammler kann nachschauen, in welchen Städten Bücher ausgesetzt wurden. In Leipzig gibt es viele Einträge, ebenso in Dresden. Meist steht der Ort dabei und ein kleiner Tipp, wo man das Buch finden kann. Dabei sind den “Freilasszonen“ keine Grenzen gesetzt. Egal ob auf einer Parkbank, in einer alten Ruine oder auf dem Bahnsteig – Bücher können überall ausgesetzt werden, wo Menschen in der Lage sind, sie zu finden. Dazu werden sie oft in Plastikbeutel gepackt und verschlossen, damit sie im Freien keinen Schaden nehmen. Doch was ist, wenn jemand ein Buch findet, mitnimmt und nicht registriert oder als gefunden angibt? Diese Frage stellte ich auch der Vorbesitzerin meines Buches, die ich dank Website gefunden habe. „Mir ist es egal, ob das Buch eingetragen wird oder nicht, wer es findet, soll es haben. Denn darum geht es beim Bookcrossing ja letztendlich. Um den Erhalt des Buches, um das Lesen und um den Wert der Geschichte.“ Auch ich werde meine eingestaubten Bücher aus dem Regal befreien und aussetzen. Wer weiß, bei wem sie landen und wem sie Freude bereiten können. Vielleicht finde ich mein Buch auch irgendwann in der Ferne wieder.