„Ich fühle mich nirgends zugehörig“, sagte der Jurist im Coaching

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Photo credit: tarnpulli on VisualHunt.com / CC BY-NC-SA

„Auch wenn ich mittendrin bin, gehöre ich nicht dazu“, war der erste Satz meines Coaching-Klienten.

Dieser Satz ließ mich aufhorchen, weil ich vor Jahren mal eine Studie gelesen hatte, wie sehr das mangelnde Gefühl von Zugehörigkeit und Depression miteinander in Verbindung stehen.

„Wie meinen Sie das?“ fragte ich.

„Ich bin Jurist, Einserkandidat, im Iran geboren. Meine Eltern kamen als Gastarbeiter nach Deutschland und wollten mir alles ermöglichen, was hier wichtig ist. Bildung, Aufstieg, Wohlstand. Ich habe das alles geschafft, aber ich weiß nicht wo ich hingehöre.“

Menschen mit diesem Lebensthema fühlen sich häufig fehl am Platz, ziehen sich allgemein schnell zurück. Glauben, dass sie irgendwie anders seien als andere und deswegen eher stören oder eine Belastung sind.

Zugehörigkeit ist ein starker Motor für Handlungen. Jugendliche lassen sich tätowieren oder den Kopf kahl scheren. Der erste Schluck Alkohol, die ersten Drogen oder der Wunsch, einer Sekte anzugehören, entspringen diesem starken Drang nach Zugehörigkeit. Auch der Terrorist fühlt die Zugehörigkeit zu seiner Gruppe und ist bereit, sich im Sinne der Spielregel zu opfern.

„Wie und wann erleben Sie Ihre mangelnde Zugehörigkeit?“ wollte ich wissen.

„Ich leite eine florierende Anwaltskanzlei in Stuttgart mit zwei Partnern und sechs Angestellten“, antwortete der Klient. „Mittags gehen wir meistens in einem der umliegenden Restaurants essen. Da weiß ich zum Beispiel nie, mit wem ich essen gehen soll. Gehe ich mit den Partnern, denke ich, dass die lieber ohne mich essen gehen würden, weil ich der Chef bin. Aber ich denke, das würden sie sich nicht trauen, mir da zu sagen.

„Manchmal würde ich lieber mit einigen Angestellten essen gehen, weil die lustiger sind, aber dann denke ich, dass sie lieber unter sich wären und sich auch nicht trauen, mir das zu sagen.
Als Ausweg schütze ich um die Mittagszeit meistens Arbeit vor und gehe allein in ein Schnellrestaurant. Aber ich finde das seltsam!“


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Photo credit: National Library of Ireland on The Commons on Visualhunt / No known copyright restrictions

Warum Zugehörigkeit so wichtig ist.

Die Frage „Wer bin ich?“ ist heute noch bedeutsamer geworden  als früher.

Denn das moderne Leben hat zur Folge, dass Gemeinschaft oft zersplittert in verschiedene Gruppen und unterschiedliche Rollen. Das Gleiche gilt für die Frage „Und wo gehöre ich hin?“, denn die Zugehörigkeit zu Gruppen und das Leben an mehreren Orten oder in fremden Ländern ist für viele Realität geworden.

Der Pychologe Heiner Keupp spricht von der „Patchwork-Identität“ des modernen Menschen, weil diese immer verbunden ist mit den jeweiligen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die sich öfter ändern. Identität ist also ein nie endender Prozess.

Zugehörigkeit: Es gibt natürlich immer noch Menschen, die diese stark erleben, aber mehrheitlich entwickelt sich die Gesellschaft in eine Richtung, dass wir uns nicht mehr ein Leben lang mit einer bestimmten Rolle identifizieren. Wer mit 45 Jahren noch immer in seinem Heimatdorf lebt und den Beruf ausübt, den er mit 17 Jahren erlernte, spürt sicher eine starke Zugehörigkeit. Aber die meisten Menschen erleben diese dauerhafte Bindung zu etwas nicht mehr.

Hinzu kommt auch der schwindende Einfluss von Religion und Kirche, die früher eine starke Zugehörigkeit vermitteln konnten.

Das hat zwei Seiten. Einerseits das Versprechen vieler Wahlmöglichkeiten („Erfinde dich neu!“) andererseits eine gewisse Haltlosigkeit. Wenn alles möglich scheint, ist auch nichts wirklich aus sich heraus wichtig oder bedeutungsvoll.

Auch die kulturelle Identität, definiert durch das Herkunftsland, durch Sprache oder Religion, die ein Zugehörigkeitsgefühl vermittelte, löst sich durch Migration oft auf.

Wie bei meinem Klienten.

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„Ich bin immer nur Zuschauer, nie Spieler.“

„Gab es mal eine Zeit, in der Sie sich zugehörig fühlten?“, wollte ich wissen.
Mein Klient musste nicht lange nachdenken und ein Lächeln huschte über sein Gesicht: „Das war noch im Iran, als ich in der Schule zur Fußballmannschaft gehörte. Ich war Mittelstürmer und anerkannt, weil ich selbst aus schwierigen Positionen noch ein Tor machen konnte.

Heute bin ich in meiner Kanzlei ja praktisch auch der Mittelstürmer, aber das Gefühl ist ganz anders. Heute bin ich fast immer nur Zuschauer, nie Spieler.“

Zugehörigkeit ist ein menschliches Grundbedürfnis. Die meisten Menschen sehnen sich nach liebevollen Beziehungen, nach Gesellschaft und Kontakt, zu einer Familie oder auch zu Gruppen. Dazu gehört auch der Wunsch, am Leben anderer  teilzuhaben und etwas beitragen zu können.

Zugehörigkeit bietet die Chance, gesehen und bemerkt zu werden. Sie steigert das Selbstwertgefühl und gibt uns die Gewissheit, geschätzt und wichtig zu sein.

„Ich weiß, dass ich für meine Mitarbeiter und für meine Mandanten wichtig bin. Sie zeigen mir das öfters. Aber es ändert nichts an meinem Grundgefühl der Isolation.“

Grundlegend für den Ansatz in meinen 3-h-Coachings ist das erkenntnistheoretische Konzept des Konstruktivismus. Dieses geht davon aus, daß Menschen mit ihren Wahrnehmungen die Welt nicht einfach „abbilden“ können, sondern sie erst „konstruieren“.

“Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, wir sehen sie so, wie wir sind.” Anaïs Nin Klick um zu Tweeten

Konkret heißt das, das ich mit meinen Klienten genau untersuche, wie sie es hinkriegen, ihr „Problem“ oder einen unangenehmen Zustand zu konstruieren. Das verwirrt manchen zuerst einmal, weil wir ja meist denken, dass Zustand oder Problem uns überfallen – wir sie auf jeden Fall nicht selbst herstellen.

Dennoch ist es oft erhellend zu fragen:

  • „Wie kommen Sie darauf, dass Ihr ganzes Leben ein Misserfolg ist?“
  • „Wie stellen Sie das genau an, dass Sie sich oft so wenig selbstbewusst fühlen?“
  • „Was machen Sie mit Ihrer Zeit, dass Sie glauben, Sie hätten nicht genug davon?“
  • „Wie könnten Sie Ihre Partnerschaft noch schlechter machen?“
  • Würde Ihre beste Freundin auch sagen, dass Sie eine Versagerin sind? Warum nicht?“

Auch bei meinem Klienten vermutete ich, dass er etwas dazu beitrug, dass er sich oft nicht zugehörig fühlte und ich fragte ihn: „Wie machen Sie das, dass Sie sich immer nicht zugehörig, nur als Zuschauer erleben?“

Erwartungsgemäß antwortete er: „Ich glaube nicht, dass ich das mache. Ich erlebe das einfach als Fakt. Ich erzähle Ihnen ein Beispiel. Letzte Woche hatte ich Geburtstag und meine zwei Partner hatten heimlich mit meinen Mitarbeitern eine Überraschung vorbereitet. Mitten im Powerpoint-Vortrag ploppte plötzlich eine Folie auf „ALLES GUTE ZUM GEBURTSTAG!!! Von irgendwoher klang Stevie Wonders „Happy Birthday!“ und zu den Türen kamen alle meine Mitarbeiter rein und strahlten mich an.“

„Eine tolle Überraschung!“ sagte ich. „Wie was das für Sie?“

„Ziemlich schrecklich!“ gab mein Klient zu. „Ich fühlte mich wie hinter einer Glaswand. Ich sah die vielen freundlichen Gesichter, die mir zulächelten aber ich war plötzlich meilenweit weg. Gleichzeitig tat es mir leid, weil ich dachte, die merken bestimmt, dass es mir unangenehm ist.“

„Da haben Sie sich weggebeamt!“ kommentierte ich die seltsame Szene.
„Ja, so kann man es nennen. Aber warum?“


Mit einem Experiment innere Konflikte aufspüren.

Jetzt wollte ich einen meiner Sätze ausprobieren, um herauszubekommen, wo der innere unbewusste Konflikt liegen könnte. Ich bat meinen Klienten, die Augen zu schließen und etwas achtsam zu werden. Dann forderte ich Ihn auf:

„Ich bitte Sie, mal den Satz zu sagen: »Ich gehöre hierher.«

Mit dieser Methode gelingt es, unbewusste Konflikte, die oft Lebensthemen sind, erlebbar zu machen. Die Sätze sind immer positiv und wahr, also Tatsachen, aber aufgrund des Konflikts des Klienten, kann er nicht einfach zustimmend nicken, sondern erlebt Widerstand. Entweder in Form einer unangenehmen Körperreaktion (Enge, Hitze, Druck etc.) oder eines unangenehmen Gefühls (Trauer, Ärger, Stress) oder in Form eines ablehnenden Gedankens (Stimmt nicht! Schön wär’s!)

So war es auch bei dem Juristen: „Aber das stimmt doch nicht!“ protestierte er. „Ich gehöre nicht dazu!“
„Woher wissen Sie das?“ fragte ich.
„Ich fühle mich nicht zugehörig. Ich fühle mich als Fremder.“

Jetzt waren wir am Engpass. Ich hatte eine Vorstellung, wie mein Klient seine Nicht-Zugehörigkeit herstellte.

Deshalb sagte ich zu ihm: „Aber Sie gehören doch dazu. Sie leben seit zweiunddreißig Jahren in Deutschland. Haben hier studiert. Es ist Ihre Kanzlei, die Sie aufgebaut haben und Sie sind der Chef. Sie gehören offensichtlich dazu.“
Doch das überzeugte ihn erwartungsgemäß nicht: „Aber was ich fühle, ist, dass ich nicht dazugehöre. Dass ich aus dem Iran stamme und ein Fremder bin.“
„Werden Sie denn jemals dazugehören?“, fragte ich neugierig.
„Vermutlich nicht“, war seine resignierte Antwort.
„Und wer entscheidet jetzt, ob und wann Sie dazugehören?“ war meine nächste entscheidende Frage.


Die meisten Coaching-Sitzungen bei mir verlaufen ziemlich emotional. Hier war das nicht der Fall. Dachte ich, als ich sagte: „Aber Zugehörigkeit ist doch kein Gefühl, sondern eine Entscheidung.“

„Wie meinen Sie das?“ fragte der Klient.
„In Niederbayern könnte Ihr Großvater vor über 150 Jahren sesshaft geworden sein, Ihr Vater könnte den Hof geerbt haben. Und Sie könnten sich zugehörig zu dem Dorf  fühlen, weil sie hier geboren wurden, Ihre Frau hier kennengelernt haben, und Sie Mitglied im Männerchor und in der freiwilligen Feuerwehr sind.

„Für die Dorfbewohner wären Sie immer noch der Zugereiste!“


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Photo credit: Hornet 18 on Visualhunt.com / CC BY-NC-ND

Von Deutschtürken, Russlanddeutschen und Flexitariern.

Im Coaching geht es meist um das Bewusstmachen unbewusster Konflikte. Oft auch um das Verändern von Einstellungen, die man bisher als allein gültig, also als wahr, betrachtete oder erlebte.

Es begann auch in meinem Klienten zu arbeiten. „Sie meinen also, ob ich dazugehöre oder nicht, ist eine Entscheidung und gar kein Gefühl?“
„Gegenfrage“, sagte ich. „Wenn Sie im Iran Ihre Freunde besuchen, fühlen Sie sich dann dort zugehörig?“
„Nein, auch nicht“,
antwortete er. „Viele sind mir viel zu rückständig und für die bin auch kein richtiger Iraner mehr.“
„Sie gehören also nirgendwo hin?“
„Scheint so“, antwortete der Klient, wieder etwas resigniert.
„Ist auch kein schönes Gefühl“, vermutete ich. „Vielleicht sollten Sie es einfach selbst entscheiden.“

In der ZEIT lese ich zu dem Thema in einem Artikel des ehemaligen Bundespräsidenten Joachim Gauck:

„In den USA besteht kein Widerspruch zwischen einer „amerikanischen“ und einer migrantischen Identität. Man kann ein chinesischer Amerikaner sein oder ein jüdischer Amerikaner. Bisher hat Deutschland diese Bindestrich-Identitäten kaum in sein Bewusstsein eindringen lassen.

In die Sprache aufgenommen wurden nur die Deutschtürken und die Russlanddeutschen. Vielleicht ist es eine der wichtigen Lernaufgaben für uns als Einwanderungsgesellschaft: zu akzeptieren, dass Zuwanderer eine Zeit im „Dazwischen“ haben. Und dass es in einer liberalen Gesellschaft letztlich immer der Einzelne ist, der sich zwischen dem Verlassenen und dem Gewonnenen, zwischen der alten und der neuen Zugehörigkeit positioniert. Integration ist immer ein individueller Prozess.


„Wie haben denn Ihre Eltern dieses Thema gelöst?“ wollte ich wissen. „Die leben doch auch schon lange in Deutschland.“
„Die haben es leichter, sie sind hier praktisch nur mit Landsleuten zusammen, besuchen zweimal im Jahr ihre Verwandten zuhause. Meine Mutter hat nie Deutsch gelernt, mein Vater nur soviel, dass er mit seinen deutschen Kunden das Nötigste sprechen kann. Die fühlen sich dem Iran zugehörig, wollen auch in ein paar Jahren wieder dorthin zurück.“

Ich wollte gegen Ende des Coachings noch einmal testen, ob sich bei meinem Klienten innerlich schon etwas geändert hatte und bat ihn, noch einmal den Satz vor sich hin zu sagen: „Ich gehöre hierher.“

„Es geht schon leichter“, berichtete er. „Der Satz ist noch ungewohnt, aber er macht mich auch ein bißchen stolz. Denn er stimmt ja tatsächlich. Ich gehöre in meine Firma. Ich gehöre zu meiner deutschen Familie. Ich gehöre nicht mehr zum Iran, ich gehöre hierher.“


Manchmal kann ich im Coaching mit einer Metapher etwas deutlich machen, was mit einer Erklärung schlecht gelingt. „Wissen Sie, was ein Flexitarier ist?“ fragte ich meinen Klienten. „Hat das nicht irgendwas mit Ernährung zu tun?“ antwortete er.

„Ja, ein Flexitarier ist jemand, der sich überwiegend vegetarisch ernährt, aber auch gelegentlich hochwertiges, biologisch produziertes Fleisch isst“.

„Sie meinen, ich wäre ein Flexi-Iraner?“
„Oder ein Flexi-Deutscher. Das können jetzt  Sie entscheiden.“


Weitere Fallgeschichten finden Sie hier:

  • „Meine Zwangsstörung macht mich fertig!“
  • „Warum sabotieren wir uns selbst?“
  • „Im Aufschieben bin ich Weltmeister!“
  • „Mit 45 bin ich immer noch der Juniorchef.“
  • „Ich bin einfach zu nett!“
  • „Karriere Top, Privatleben Flop!“
  • „Ich kann keine Entscheidungen treffen.“
  • „Ich habe alles erreicht!“
  • „Delegieren kann ich nicht.“

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Bilder: © siehe Bildunterschrift

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