Sein Gesicht habe ich nie gesehen. Seine Stimme nicht gehört. Für mich hatte er keinen Körper. Er bestand aus Buchstaben, Zeichen, aus erlesenen, aus bemerkenswerten Texten - er bestand aus Informationen, die ich über ihn hatte. Mittfünfziger. Aus Berlin. Postleitzahl. Ich kannte ihn nur als Zahlenwust. In mein Leben trat er als Zeichensalat, nie als Leib.
Zwei Jahre sind vergangen, seitdem dieser Mensch, den ich nie als Menschen kannte, gestorben ist. Viel ist passiert seit jener Zeit; für die Welt, für mich. Ich habe damals einige elektronische Briefe mit ihm getauscht. Über die Welt, wie sie sich wandelte - über den Sozialstaat, wie er darniederlag - manchmal klitzekleine Privatheiten. Wir besprachen Widgets; wir ereiferten uns über Plug-ins - der Soziolekt des Bloggens. Ich wusste wenig über ihn selbst, viel über seine Denkmuster - ich wusste, ich spürte, dass er ein belesener Geist war. Doch nicht mal seinen Nachnamen kannte ich. Obgleich er nur über den Monitor meines Rechners Gestalt für mich annahm, war das Menschliche, das da von der anderen Seite her durch die Leitung kroch, intensiv spürbar. Eine Bekanntschaft unserer Epoche; eine gesichtslose Bekanntschaft, wie sie lediglich die Ära der allseits bereiten, allseits umsetzbaren Kommunikation erfinden kann.
Seine Texte waren Labsal. Darin versöhnte sich vergeistige Lebenserfahrung mit eloquentem Mut. Seine Kritik am neoliberalen Wahn war stets durchdacht. Ich hatte nie den Eindruck, dass er seine Kritik auf sentimentale Duseleien baute, vielmehr pflückte er die Thesen seiner weltanschaulichen Kontrahenten dialektisch auseinander, gab er der Ratio Argumente zur Hand. Dessenungeachtet war der Mensch zu spüren. Die Symbiose aus Denker und Fühler. Die Emotion war sein Pferd, die Ratio sein Reiter. Ein kantianisches Gemüt.
Mir ist so, als sei er auch Musiker gewesen. Habe ich ihm je erzählt, dass ich damals in einer Ehe lebte? Er kannte sich jedenfalls mit amerikanischer Musik aus, erinnere ich mich. Wusste er, aus welcher Stadt ich kam? Sich nie gesehen zu haben, wenig bis nichts übereinander zu wissen - wie arm und reich uns die Segnungen breitbandinger Glasfaseranbindungen doch machen. Komische Tage, in denen wir leben. Man begegnet sich blind, man spricht stumm miteinander, man hört sich taub.
Anderthalb Jahre hatten wir sporadisch Kontakt miteinander, verrät ein Blick ins elektronische Postfach. Da und dort Tage in Serie, ab und an wochenlanges Schweigen. Fast täglich las ich auf seinen Seiten. Und dann unterbrach der Tod die Kommunikation. Denke ich an einen Freund aus Kindertagen, den ich einst hatte, und der später, der Kontakt war längst abgerissen, beim Wintersport den Tod fand, so stelle ich mir stets einen lachenden, nicht gerade schlanken Jungen von fünf oder sechs Jahren vor. So war er in meinem Leben präsent. Denke ich an diesen Mann, der vor zwei Jahren ging, ich kann mir kein Gesicht denken - ich sehe e-Mails vor mir, ich erinnere mich an Passagen aus seinem Schaffen, an Gedankengänge, die er mir beibrachte. Buchstaben, keine Haut; weißer Monitorhintergrund, keine Augen - das war, das ist er für mich.
Gleichwohl sitze ich zwei Jahre später hier und schreibe über ihn. Über einen, den ich nie sah. Über einen Menschen, von dem ich vielleicht nie wissen werde, wie er ausgesehen hat. Ob ich nur jetzt, da erst zwei Jahre ins krisengeschüttelte Land gingen, daran denke? Muß ich damit rechnen, noch als alter Mann meine Gedanken in die ferne Vergangenheit zu werfen, um mich zu fragen, wer er war, wie er aussah? Nachdem ein Mensch stirbt, wollen alle, die seiner gedenken, Freunde gewesen sein. Wir waren keine Freunde. Bleiben wir bei der Wahrheit. Wir waren durch den Zufall des Internets zusammengefundene Bekannte. Bis er starb. Und ich sitze zwei Jahre später hier und denke an ihn. Ohne ein Gesicht zu haben. Ich denke ihn mir als Buchstaben. Er war ja doch ein Mann des Wortes.
Genau heute ist es zwei Jahre her, da uns ein Mitstreiter starb.
Zwei Jahre sind vergangen, seitdem dieser Mensch, den ich nie als Menschen kannte, gestorben ist. Viel ist passiert seit jener Zeit; für die Welt, für mich. Ich habe damals einige elektronische Briefe mit ihm getauscht. Über die Welt, wie sie sich wandelte - über den Sozialstaat, wie er darniederlag - manchmal klitzekleine Privatheiten. Wir besprachen Widgets; wir ereiferten uns über Plug-ins - der Soziolekt des Bloggens. Ich wusste wenig über ihn selbst, viel über seine Denkmuster - ich wusste, ich spürte, dass er ein belesener Geist war. Doch nicht mal seinen Nachnamen kannte ich. Obgleich er nur über den Monitor meines Rechners Gestalt für mich annahm, war das Menschliche, das da von der anderen Seite her durch die Leitung kroch, intensiv spürbar. Eine Bekanntschaft unserer Epoche; eine gesichtslose Bekanntschaft, wie sie lediglich die Ära der allseits bereiten, allseits umsetzbaren Kommunikation erfinden kann.
Seine Texte waren Labsal. Darin versöhnte sich vergeistige Lebenserfahrung mit eloquentem Mut. Seine Kritik am neoliberalen Wahn war stets durchdacht. Ich hatte nie den Eindruck, dass er seine Kritik auf sentimentale Duseleien baute, vielmehr pflückte er die Thesen seiner weltanschaulichen Kontrahenten dialektisch auseinander, gab er der Ratio Argumente zur Hand. Dessenungeachtet war der Mensch zu spüren. Die Symbiose aus Denker und Fühler. Die Emotion war sein Pferd, die Ratio sein Reiter. Ein kantianisches Gemüt.
Mir ist so, als sei er auch Musiker gewesen. Habe ich ihm je erzählt, dass ich damals in einer Ehe lebte? Er kannte sich jedenfalls mit amerikanischer Musik aus, erinnere ich mich. Wusste er, aus welcher Stadt ich kam? Sich nie gesehen zu haben, wenig bis nichts übereinander zu wissen - wie arm und reich uns die Segnungen breitbandinger Glasfaseranbindungen doch machen. Komische Tage, in denen wir leben. Man begegnet sich blind, man spricht stumm miteinander, man hört sich taub.
Anderthalb Jahre hatten wir sporadisch Kontakt miteinander, verrät ein Blick ins elektronische Postfach. Da und dort Tage in Serie, ab und an wochenlanges Schweigen. Fast täglich las ich auf seinen Seiten. Und dann unterbrach der Tod die Kommunikation. Denke ich an einen Freund aus Kindertagen, den ich einst hatte, und der später, der Kontakt war längst abgerissen, beim Wintersport den Tod fand, so stelle ich mir stets einen lachenden, nicht gerade schlanken Jungen von fünf oder sechs Jahren vor. So war er in meinem Leben präsent. Denke ich an diesen Mann, der vor zwei Jahren ging, ich kann mir kein Gesicht denken - ich sehe e-Mails vor mir, ich erinnere mich an Passagen aus seinem Schaffen, an Gedankengänge, die er mir beibrachte. Buchstaben, keine Haut; weißer Monitorhintergrund, keine Augen - das war, das ist er für mich.
Gleichwohl sitze ich zwei Jahre später hier und schreibe über ihn. Über einen, den ich nie sah. Über einen Menschen, von dem ich vielleicht nie wissen werde, wie er ausgesehen hat. Ob ich nur jetzt, da erst zwei Jahre ins krisengeschüttelte Land gingen, daran denke? Muß ich damit rechnen, noch als alter Mann meine Gedanken in die ferne Vergangenheit zu werfen, um mich zu fragen, wer er war, wie er aussah? Nachdem ein Mensch stirbt, wollen alle, die seiner gedenken, Freunde gewesen sein. Wir waren keine Freunde. Bleiben wir bei der Wahrheit. Wir waren durch den Zufall des Internets zusammengefundene Bekannte. Bis er starb. Und ich sitze zwei Jahre später hier und denke an ihn. Ohne ein Gesicht zu haben. Ich denke ihn mir als Buchstaben. Er war ja doch ein Mann des Wortes.
Genau heute ist es zwei Jahre her, da uns ein Mitstreiter starb.