Den folgenden Beitrag hab ich heute für den Ohrfunk geschrieben.
Am Wochenende gab es wiedereinmal viele Wahlen: Im Kosovo gewann die Kriegspartei, in Frankreich ging fast niemand zur Wahl, und in Großbritannien wurden die Konservativen abgestraft und blieben doch an der Regierung, weil sie sich mit den Radikalinskis von den nordirischen Nationalisten auf eine Regierung einigten. Völlig egal, dass hierdurch das labile Gleichgewicht in Nordirland durcheinandergebracht wird, völlig egal, dass trotz des Sieges von Präsident Macron in Frankreich die Leute einfach keinen Bock mehr auf Politik haben, völlig egal, dass der Balkan auch 100 Jahre nach dem ersten Weltkrieg und über 600 Jahre nach dem Ende des serbischen Großreiches noch immer ein Pulverfass ist.
Wir kämpfen ums Überleben, sagen die Politiker. Der Terror ist das dringendste und herausragendste Problem unserer Zeit, sagen sie. Wir müssen den Terror bekämpfen, sagen sie. Nichts anderes ist mehr wichtig, glauben wir.
Ich kann Ihnen sagen, warum ich ganz persönlich keine Lust mehr habe, zu einer Wahl zu gehen. Ein guter Freund, ein intelligenter Man, ein scharfer Beobachter unterhielt sich mit mir über Theresa Mays Aussage, dass man, wo Menschenrechtsgesetze den Kampf gegen den Terror behinderten, diese Gesetze ändern müsste. Dieser Freund, dieser intelligente Mann, dieser scharfe Beobachter konnte sie verstehen. Wir können uns doch nicht aus lauter Idealismus den Terrorismus leisten, meinte er sinngemäß und verkürzt gesagt.
Gegen diese Argumentation gibt es keine schlagkräftige Entgegnung. Wer hofft, mit der Abschaffung von Menschenrechtsgesetzen den Terror eindämmen zu können, der muss irgendwo in seinem Inneren hoffen, dass es möglich ist, eine fast totale Sicherheit zu erreichen, die man sich mit der Einschränkung persönlicher Freiheit und Teilhabe erkaufen kann. Offenbar sind viele Menschen dieser Ansicht, sonst würden nicht so wenige zur Wahl gehen, sonst hätten nicht die britischen Konservativen immer noch 40 % der Stimmen erreicht, trotz Theresa Mays Aussage über die Menschenrechte. Ich meine: Wofür kämpft man noch und geht zur Wahl, wenn den Menschen ihre eigene Sicherheit wichtiger ist, als ihre eigene Freiheit? Und begreifen diese Menschen nicht, dass das Abschaffen oder Einschränken der Menschenrechte ihre Sicherheit nicht erhöht? Vielleicht werden sie dann nicht mehr von Terroristen ermordet, aber vielleicht von der eigenen Polizei, die dann einfach auf Verdächtige schießen darf, die willkürlich verhaften darf, die auf das Leben Unbescholtener keine Rücksicht mehr nehmen muss, die einfach in Wohnungen eindringen darf, die ohne Gerichtsurteil einsperren oder erschießen darf. Menschenrechte erhöhen die Sicherheit vor der Willkür des eigenen Staates, begreift das noch irgendwer?
1933 – es tut mir leid, dass ich schon wieder mit dieser alten Kamelle komme – haben die Nazis ihre Terrorherrschaft gerechtfertigt mit einem behaupteten kommunistischen Aufstand, nachdem der Reichstag angezündet worden war. Da wurden zugunsten vermeintlicher Sicherheit die Menschenrechte eingeschränkt, und fortan war niemand mehr sicher, der eine eigene Meinung hatte. Aber, so der damalige nationalsozialistische Kirchenminister Hans Kärl, das deutsche Volk konnte wieder gut schlafen, solange der Führer lebte. Glauben wir das? Glauben wir das wirklich?
In Frankreich ist die Überwachung viel viel weiter fortgeschritten als in Deutschland, und in Großbritannien werden alle öffentlichen Plätze überwacht. hat diese Überwachung bislang einen einzigen Attentäter an seinem Anschlag gehindert? Alle Attentäter von Paris und London waren polizeibekannt, sie waren im Visier der Behörden, und nichts hat die Anschläge verhindert. Und auch in Deutschland hat man Herrn Amri auf Wunsch des Verfassungsschutzes in Ruhe gelassen, weil man hoffte, durch ihn ein Netzwerk auffliegen lassen zu können, und hat bewusst einen Anschlag in kauf genommen, der dann auch prompt erfolgte. Glauben wir wirklich, dass mehr Überwachung, mehr Einschränkung von Freiheitsrechten eine Lösung ist?
Nach jedem Anschlag heißt es, wir wollen unsere Werte, unsere Lebensart nicht von Terroristen kaputt machen lassen. Und mit dieser Lebensart ist doch ganz klar die demokratische Staatsorganisation und die persönliche Freiheit des Einzelnen gemeint, die im Gegensatz zum radikal entpersönlichten Religions- und Gesellschaftsverhältnis der radikalen Terroristen steht. Wenn wir dann aber die Menschenrechte einschränken, tun wir doch genau das, wir lassen uns unsere Lebensart, das Besondere an den sogenannten westlichen Staaten, abspenstig machen. Polizeistaaten findest du überall, Freiheit ist das besondere Merkmal unserer westlichen Zivilisation, Freiheit und Demokratie. Also darf es überhaupt keine Einschränkung von Freiheitsrechten geben, im Gegenteil, sie müssen gestärkt werden, wir müssen immer unangreifbarer werden für totalitäre Ideen, weil wir frei sind!
Allerdings gehört zu dieser Freiheit und zu dieser Demokratie auch, dass wir sie selbst verteidigen. Niemand kann sie für uns schützen, wir müssen es schon selbst tun. Wir müssen stolz sein auf diese Freiheit und diese Demokratie, wir müssen zu jeder Wahl gehen, uns bei Abstimmungen, Petitionen, Diskussionen einmischen, selbst Vorschläge machen, unsere Meinung laut sagen, dem Terror, der Angst und der Unsicherheit die Stirn bieten. Ja, es kostet Mut, aber es würde reichen, wenn jeder das in seinem kleinen Umfeld tun würde, niemand verlangt Helden- oder Märtyrertum. Aber dieses bisschen eigener, freiwilliger Teilhabe, dieses Nutzen der Möglichkeiten, die eine freie Gesellschaft bietet, das muss man schon verlangen.
Aber wenn es euch nicht interessiert, bitte. Guckt euch eure Videos auf dem Smartphone an, schaltet weg, wenn die Nachrichten kommen, geht nicht zur Wahl, treibt Sport, sorgt für eure schlanke Linie und verkauft eure Daten, denn ihr habt ja nichts zu verbergen. – Bloß hab ich dann auch keine Lust mehr, zur Wahl zu gehen.
Der Unterschied zwischen mir und euch ist bloß, dass ich es eben trotzdem tun werde, wieder und wieder, jedes verdammte mal, denn ich will meine Freiheit nicht der Sicherheit opfern müssen, lieber von den eigenen Landsleuten wegen meiner Unangepasstheit einkassiert zu werden, als bei einem Terroranschlag zu sterben.
Ich bin frei!