Am Montag kommt Florian zu mir: Er wolle zu einer Fora, einem Nomadenlager, hinausfahren, und werde dort übernachten. Ob ich mitkommen wolle. Es ist heiß, ich bin müde, und die Blende der Kamera verhakt sich immer wieder, so dass das Fotografieren auch keinen wirklichen Spaß mehr macht. Kurzum, ich habe keine Lust. Doch bin ich zu feige, einem solchen Naturburschen (“Ein harter Bursche”, sagt der Chief respektvoll über ihn) wie ihm zu sagen, dass ich lieber bequem in Illeret bleibe, daher lüge ich, dass ich mit Vergnügen mitkomme.
Mit nur wenigen Minuten Verspätung fahren wir um Drei ab, das Auto voller Nomaden mit Gepäck und – Gewehren. Einige der Reisenden tragen die Uniform der Homeguards. Aus irgendeinem Grund hat die Regierung zahlreiche Nomaden zu Homeguards (Hilfspolizisten) erklärt und ihnen damit die Erlaubnis gegeben, Uniform zu tragen und ein Gewehr zu besitzen, ohne dass diese “Polizisten” dadurch auf die staatliche Ordnung verpflichtet wären. Ob allerdings alle Gewehre legal sind, darf bezweifelt werden – Legal, illegal, sch…egal, sagte man zu meiner Schulzeit.
Zwei Stunden lang geht es über eine gute Piste in die Wüste hinein, dann sagt der Chief (Häuptling), irgendwo hier müsse das Lager sein. Er steigt mit Florian und anderen aufs Autodach, um nach dem Lager Ausschau zu halten.
In der Zwischenzeit posieren einige Nomaden mit Gewehr für meine Kamera (siehe Foto ganz oben). Ein Junge, den ich auf Zwölf schätze, steht so professionell da, dass ich vermute, dass er auch damit schießen könnte, wenn er wollte. Die Nomaden sind wohl der Meinung, jeder “echte Mann” müsse ein Gewehr haben. Komischer Gegensatz dazu: Die meisten tragen Röcke und Zöpfchen, so dass ich zuerst denke, sie wären Mädchen. Leider habe ich meine Kamera nicht so schussbereit wie die Nomaden ihre Gewehre, denn ich sehe zum ersten Mal in meinem Leben einen Leoparden in freier Wildbahn. Er läuft einer kleinen Gazelle hinterher, die läuft nach rechts in ein Gebüsch, der Leopard läuft geradeaus weiter, sie springt nach links auf einen kleinen Felsen und schaut unser Auto an. Der Blick scheint zu sagen, “Ist der dumm !”
Die Fahrt geht weiter, jetzt einfach querfeldein. Ziemlich genau bei Sonnenuntergang erreichen wir das Lager. Damit ist auch geklärt, warum die Abfahrt so ungewöhnlich pünktlich war – alle wussten, dass wir bei Verspätung in die Dunkelheit geraten würden und das Lager womöglich nicht finden würden.
Das Lager besteht aus vielleicht zehn Hütten, aus Zweigen gebaut und mit schwarzer Plastikplane bedeckt. Früher waren die Hütten aus Gras gebaut, bemerkt Florian. Der Chief antwortet, dass das Plastik ein Problem darstellt, weil es in der Sonne glänzt und deshalb die Parkwächter von weitem auf das Lager aufmerksam werden. Aber es gibt heute nicht mehr genug Gras, um die Hütten zu decken. Die Hütten sind von einem Zaun umgeben, der einfach aus Zweigen von Dornbüschen besteht. Darum herum werden die Tiere für die Nacht untergebracht, Schafe, Ziegen, Kühe und ein paar Esel, die einzelnen Herden wieder durch Dornbusch-Zaun getrennt, und auch gegen die Außenwelt nochmals mit einem solchen Zaun geschützt. Rauch von Feuern steigt auf, die Hirten kehren mit ihren Herden zurück. Warum macht das Ganze auf mich einen so einladenden Eindruck ? Wahrscheinlich werde ich nicht viel Schlaf finden können, und viel von dem Essen, das mich hier erwartet, werde ich auch nicht hinunterwürgen können. Dennoch kommt mir der Ort spontan sympathisch vor. Liegt das daran, dass wir seit drei Stunden keine anderen Menschen gesehen haben ? Oder liegt es an Genen, die noch aus der Zeit der Völkerwanderung in mir schlummern ?
Nachdem wir einige Zeit draußen herumgestanden haben, führt der Chief uns durch die äußere Hecke zwischen den Schafen hindurch ins Innere. Dort wird auf einem freien Platz die große Zeltplane ausgebreitet, die wir von Illeret mitgebracht haben. Florian besucht einen der Nomaden, dessen chronische Nierenkrankheit sich kürzlich verschlimmert hat, in seinem Zelt, während eine Frau mir eine Plastikkanne voller Tee mit Milch reicht, den ich aus der dazugehörigen Plastiktasse trinke. Nicht gerade mein Lieblingstee, aber trinkbar. Dann lädt der Chief den inzwischen zurückgekehrten Florian und mich zur Vorspeise ein. Vor einem der Zelte gibt es Leberstückchen. Nicht meine Leibspeise, aber essbar. Inzwischen ist es dunkel, ein Nomade kommt mit seiner Taschenlampe vorbei, ich hoffe, dass das Licht nicht in die Schüssel fällt, damit der Anblick mir nicht den Appetit verdirbt. Nach dieser Vorspeise geht es wieder zurück zu unserer Zeltplane, wo wir auf den zweiten Gang warten. Nach einiger Zeit werden wir dann wieder gerufen, es gibt diesmal irgendein Fleisch, geanueres ist nicht zu sehen, es wird wohl Ziege sein. Das erste Stück, das ich erwische, ist nicht besonders gut, danach tue ich nur noch so, als ob ich mir etwas aus der Schüssel nehme. Zu Florian sage ich, “Meine Strategie ist nicht, satt zu werden, meine Strategie ist, nicht aufzufallen.” Der Chief meint am nächsten Morgen zu mir, ich hätte wohl abgenommen – ob er doch etwas gemerkt hat ?
Dann setzen sich immer mehr Männer auf die Zeltplane, der Chief ermahnt uns, uns andersherum zu setzen, so dass alle in dieselbe Richtung schauen, und nun beginnt die Versammlung, um derentwillen Florian hergekommen ist. Ein Mann reicht einem anderen einen Speer, der dann viele kurze Rufe ausstößt, auf die alle mit etwas antworten, was wie “Haya” klingt. Florian erklärt mir später, es seien Segenswünsche gewesen, ungefähr “Unser Vieh möge gedeihen”, und ähnliches. Danach werden einige Reden gehalten, der Sprecher geht vor den Versammelten auf und ab und hält den Speer in der Hand. Da gar kein Licht vorhanden ist, sehe ich den Sprecher nur als Schatten vor den tausend Sternen, die am wolkenlosen Himmel stehen. Eindrucksvoll, aber ich bin zu müde, so lehne ich mich zurück und schließe die Augen. Im Halbschlaf habe ich den Eindruck, alles zu verstehen – der Sprecher erzählt vom Auszug Israels aus Ägypten. Als Florian aufgerufen wird, werde ich wieder wach. Florian spricht Suaheli, der Chief übersetzt in die Dassanach-Sprache. Er schlägt den Nomaden vor, an einer bestimmten Stelle eine neue Siedlung zu gründen, um der Regierung klarzumachen, dass diese Stelle zum Gebiet der Dassanach gehört und von der Regierung nicht für andere Zwecke verwendet werden darf. Es gibt einige Nachfragen von den Zuhörern, dann kommt der nächste Sprecher. Nach dem Ende der Versammlung legen wir uns an Ort und Stelle aufs Ohr bzw. auf das Handtuch, das ich als Kopfkissenersatz mitgenommen habe. Florian liegt links von mir, daneben der Chief, daneben die Kalaschnikow des Chiefs. Rechts von mir liegt Otieno, ein Jugendlicher aus Illeret, der keine Eltern mehr hat, bei Verwandten wohnt, aber tagsüber meist im Pfarrhaus rumhängt oder sich nützlich macht (das Foto oben zeigt ihn hinter Florian beim Zähneputzen mit Hilfe eines Holzstücks, das hier als Bürstenersatz dient, noch weiter oben bringt er eine Ziege zu unserem Auto). Jetzt ist er einfach mitgefahren, er ist erst im letzten Moment auf das Auto geklettert, als Florian schon am Steuer saß und nichts davon merken konnte, jetzt sitzt er überall dabei, wo der Chief, Florian und ich sind. Er hat kein Kopfkissen, und um sich gegen den Wind zu schützen, zieht er nur sein T-Shirt halb über den Kopf. Ich habe meine warme Jacke mit Kapuze, so bin ich gut geschützt. Die Unterlage ist etwas hart, das Kopfkissen etwas klein, und alles ist vom Blöken der Schafe untermalt. Ich schlafe hervorragend.
Am Morgen entfällt alles, was sonst das Aufstehen verzögert: Noch ein bisschen liegenbleiben, weil es im Bett so bequem ist, Waschen, Rasieren, Anziehen. Ich stehe einfach auf, als es hell wird, nehme die Kamera, und mache die ersten Fotos.
Es gibt wieder Tee mit Milch, dann folge ich Florian in eine der Hütten, wo es Sauermilch aus einer Plastikkanne gibt. “Cook it, peel it, or forget it,” heißt die Regel für Essen in Ländern mit anderen Hygienestandards, sinngemäß, “Iss nur Gekochtes oder Obst, das du schälen kannst.” Da Florian aber keine Bedenken hat, trinke ich mit. Danach geht es zurück. Da das Essen in Illeret gut und reichlich ist, macht es nichts, dass ich etwas hungrig bin, jedenfalls bin ich um eine wunderschöne Erfahrung reicher.