Ibn Rushd Preis verliehen

Am 30. November wurde im Museum für isla­mi­sche Kunst in Berlin der Ibn Rushd-Preis für Freies Denken an die syri­sche Rechtsanwältin und Menschenrechtsaktivisten Razan Zaituoneh ver­lie­hen. Die Preisträgerin konnte selbst nicht anwe­send sein, da sie sich aus Sicherheitsgründen in Syrien ver­steckt hal­ten muss.

Ibn Rushd Preis verliehenMit der dies­jäh­ri­gen Preisverleihung setzt der Fund seine Tradition fort, jähr­lich Persönlichkeiten aus ara­bi­schen Ländern  zu wür­di­gen, die sich in beson­de­rer Weise für Menschenrechte und für demo­kra­ti­sche Freiheiten enga­giert haben.

Razan Zaituoneh, 1977 in Syrien gebo­ren, ist seit 2001 als Rechtsanwältin tätig und enga­gierte sich seit­dem in einer Anwaltsvereinigung für die Verteidigung poli­ti­scher Gefangener. Sie ist Gründungsmitglied der Human Right Association in Syrien und grün­dete 2005 die Internetplattform SHRIL, die als Datenbank zur Erfassung von Menschenrechtsverletzungen in Syrien fun­giert. Engagiert hat sich die Preisträgerin auch in Komitees für die Unterstützung von Familien poli­ti­scher Gefangener. Sie ist zudem eines der Gründungsmitglieder der Anfang April 2011 gegrün­de­ten ört­li­chen Koordinationskomitees der syri­schen Revolution. Sie ist wei­ter­hin in Syrien im Untergrund tätig.

In sei­ner Laudatio wür­digte Prof. Udo Steinbach (Islamwissenschaftler und Nahostexperte) die Preisträgerin und beleuch­tete die Entwicklung der ara­bi­schen Gesellschaften, den bis­he­ri­gen Ablauf der syri­schen Revolution und die Rolle ins­be­son­dere der west­li­chen Länder. Er bezeich­nete die jet­zige Revolution als die Dritte Revolte, nach der ers­ten der 1920er Jahre und der zwei­ten nach der Machtübernahme durch die Freien Offiziere in Ägyp­ten in den 1950er Jahren. Die Selbstverbrennung des Tunesiers Mohamed Bouazizi am 17.12.2010 aus Verzweiflung über die Entwürdigung sei­ner Person wer­tete Prof. Steinbach als ein „Fanal an Millionen von Menschen, den Platz der ara­bi­schen Gesellschaft im 21. Jahrhundert neu zu bestim­men.“ Heute könne man fest­stel­len, dass es kei­nen Ort in der ara­bi­schen Welt gäbe, der von der Revolte nicht erfasst wor­den wäre.

Syrien: Wir sind das Volk – Vereint im Protest

In Syrien hät­ten sich, seit­dem der Protest im März 2011 zu einer kol­lek­ti­ven Sache gewor­den sei, unter dem  Motto „Wir sind das Volk“ Menschen aller Konfessionen und Ethnien im Protest ver­eint. Es komme, so der Laudator, für die unmit­tel­bare Zukunft in Syrien dar­auf an, dass das herr­schende Regime bald an sein Ende komme, denn jeder wei­tere Tag sei­ner Herrschaft ver­mehre nicht nur die Zahl der Toten son­dern ver­tiefe auch die Gräben und auch den Hass der Syrer unter­ein­an­der. Die Menschen in Syrien bräuch­ten die Perspektive einer neuen Ordnung, in der sie sich gemein­sam wie­der­fin­den kön­nen. Als unver­zicht­bare Voraussetzung eines Neuanfangs bezeich­nete Prof. Steinbach die Versöhnung der Syrer.

Kritik an der Tatenlosigkeit des Westens

Er kri­ti­sierte die west­li­chen Länder, deren Verhalten bezüg­lich Syriens von Tatenlosigkeit geprägt sei. Steinbach sagte: „Sanktionen sind keine wirk­sa­men Maßnahmen, son­dern win­dow dres­sing. Sie sol­len den Eindruck erwe­cken, es geschehe etwas. In der Wirklichkeit frei­lich geschieht fast nichts.“ Jahrzehnte lang habe „der Westen“ mit einer „Mischung von Dünkel,  Mitleid und Pseudoexpertentum“ auf „die Araber” und „die Muslime“ hin­ab­ge­schaut, die zur Demokratie gleich­sam gene­tisch nicht fähig seien und die ganz Schlauen (in Europa) hät­ten gefor­dert, die Muslime müss­ten erst eine „Aufklärung“ durch­ma­chen, bevor sie zur Moderne auf­schlie­ßen könn­ten. Allerdings habe die „ara­bi­sche Revolte, der syri­sche Aufstand uns eines bes­se­ren belehrt: Wir sind alle den Werten der Humanität ver­pflich­tet. Die Freiheit ist die con­di­tio sine qua non…“, so  Prof. Steinbach.

Die Perspektive einer neuen gegen­sei­ti­gen Wahrnehmung sei erfor­der­lich, und: „die hier­zu­lande geheg­ten Klischees über „die Araber“, „den Islam“, „die Muslime“ gehö­ren in den sel­ben Abfall, wie die Potentaten und Autokraten, die von ihren „Untertanen“ gestürzt wur­den. Man dürfe als Europäer nicht abseits ste­hen, zumal die ara­bi­sche Revolte in jenem Kontext von Menschenwürde und Freiheit ver­or­tet sei, den die Menschen im Westen als für sich ver­bind­lich rekla­mier­ten.

Verhältnis zu ara­bi­schen Gesellschaften neu bestim­men

Die fast taten­lose Hinnahme des Mordens in Syrien grenze an Zynismus. Es sei nötig, wirk­sa­men Schutz zu gewähr­leis­ten, was weder nur durch Worte noch wirk­sam durch Sanktionen erreicht wer­den könne: „Schutz bedeu­tet sich ein­zu­mi­schen oder den zu  Beschützenden mit den Mitteln zu ver­sor­gen, mit dem er sich selbst schüt­zen kann.“ Prof. Steinbach wies dar­auf hin, dass die Menschen, die sich nach dem 17. Dezember 2010 in den ara­bi­schen Ländern erho­ben hät­ten, Europa zuvor nicht gefragt son­dern ohne Europa gehan­delt hät­ten. Sein Fazit: „Hätten sie Europa gefragt und unter Unterstützung gebe­ten, wären sie wohl abschlä­gig beschie­den wor­den.“ Eine Neubestimmung des Verhältnisses zu den ara­bi­schen Gesellschaften sei drin­gend erfor­der­lich.

Einblicke: Gefühle und Gedanken einer Revolutionärin

Die Rede der Preisträgerin Razan Zaitouneh, die anläss­lich der Verleihung des Ibn Rushd Preises für sie ver­le­sen wurde, gibt Einblicke in die Lage in Syrien im letz­ten Jahrzehnt und beschreibt die dor­tige Revolution, sie ist zudem ein lesens­wer­tes zeit­ge­nös­si­sches Dokument über das „Innenleben“, die Gefühle und Gedanken einer Freiheitskämpferin in einer Revolution im 21. Jahrhundert. Ihre Rede ist eine (mas­sive) Anklage gegen das men­schen­feind­li­che Assad-Regime, ein (flam­men­des) Plädoyer für die Achtung von Menschenwürde und Menschenrechte und eine (ver­nich­tende) Kritik am Westen, der die Menschenrechte wie eine Monstranz vor sich her­trägt, aber den­je­ni­gen, die diese Rechte für sich ein­for­dern, die not­wen­dige Unterstützung ver­wei­gert.

Die Rede von Razan Zaituoneh  beschäf­tigt sich mit der Entwicklung der Menschenrechtssituation in Syrien in den letz­ten Jahrzehnten und den Aktivitäten ver­schie­de­ner Gruppen zur Unterstützung poli­ti­scher Gefangener und zur Wahrung von Menschenrechten. Razan Zaitouneh schil­dert aus eige­ner Erfahrung ein durch die Sicherheitsdienste geschaf­fe­nes Klima der Bedrohung und der Angst und beschreibt als Beispiel die Situation auf dem Bürgersteig vor dem Staatssicherheitsgerichts in Damaskus, wo die Menschenrechtsaktivisten und die Angehörigen poli­ti­scher Gefangener auf die Gefängniswagen war­te­ten, die ver­zwei­fel­ten Schreie der Mütter und die Tränen der Frauen und Kinder, wenn der Gefängniswagen ankam, obwohl sie  nicht ein­mal wuss­ten, ob die seit Monaten ver­miss­ten Söhne, Ehemänner und Väter sich tat­säch­lich in dem Wagen befan­den oder nicht. „Es ist die Geschichte von Zehntausenden von Inhaftierten und Verschollenen vor Beginn der Revolution“, über die die Preisträgerin spricht und sie bezeich­net als damals wich­tigs­tes Ziel der Anwälte — neben der unmit­tel­ba­ren Hilfeleistung —, „die Mauern zwi­schen uns Syrern stür­zen zu las­sen.“, die Mauern, die vom Regime errich­tet wor­den waren, um alle ein­zu­schüch­tern und keine Solidarität auf­kom­men zu las­sen.

Ibn Rushd Preis verliehenDie Brutalität des Regimes, Tod, Angst und der Mut der Revolutionäre

Razan Zaituoneh beschreibt dann die Wochen und Monate nach dem begin­nen­den Wandel in Tunesien und Ägyp­ten, die sich ent­fal­ten­den Demonstrationen in Syrien und die bru­tale Reaktion des Regimes, so dass bereits nach kur­zer Zeit klar war, „dass Syrien tat­säch­lich nicht wie Tunesien oder Ägyp­ten war. Das syri­sche Regime hatte keine Hemmungen auf junge Männer, Frauen und Kinder das Feuer zu eröff­nen, nur weil sie auf die Straße gin­gen und Parolen rie­fen, in denen sie ein Leben in Würde und Reformen for­der­ten.“

Die Preisträgerin musste bereits im März 2011 in den Untergrund gehen, um ihr Leben nicht zu gefähr­den und hat dort dann mit­be­gon­nen, Koordinationskomitees für die Revolution auf­zu­bauen.

Razan Zaitouneh spricht nach­denk­lich und auch kri­tisch über die gegen­wär­tige Situation in Syrien, über die Angst und die bedrü­cken­den Sorgen, aber auch über den unbe­ding­ten Willen, nicht mehr so wei­ter­le­ben zu wol­len, wie bis­her und sich des­halb für die Revolution zu enga­gie­ren.

Sie sagt: „In einer Revolution gibt es viele Möglichkeiten, heiße Tränen zu ver­gie­ßen. Nicht immer hat es mit dem Tod zu tun. Du kannst wei­nen, wenn dich die Nachrichten aus Basra al Sham  die Zerstörung ihrer his­to­ri­schen Monumente errei­chen, oder wenn die Explosion von einer Granate im „Bett der Emira“ in Bosra hörst, oder  wenn du siehst, wie die his­to­ri­schen Märkte von Aleppo durch eine Bombe in Trümmer und Asche ver­wan­delt wer­den.“

An die Zukunft zu den­ken, bedeute für sie, sich auch den Problemen der Vertriebenen, der Obdachlosgewordenen, nach­dem ihre Häuser und Besitztümer in Schutt und Asche ver­wan­delt wor­den waren, zu wid­men. Sie hat Grund zum Optimismus und sie zeigt sich opti­mis­tisch: „Erstaunlicherweise haben die Syrer inmit­ten all des Tötens und Zerstörung nie auf­ge­hört, ihre Fähigkeiten zusam­men auf­zu­bauen und wei­ter zu ent­wi­ckeln.“ Die Entscheidung der­je­ni­gen, die sich ent­schlos­sen haben in Syrien zu blei­ben und zu kämp­fen, habe über­haupt nichts mit Mut zu tun: „Es hat in ers­ter Linie mit der Position zu tun, die für sich in die­ser Revolution wählt,  weil man an diese Ansicht und an die Revolution glaubt: Aus dem ein­fa­chen Wunsch her­aus, den Menschen zu hel­fen, wei­ter­zu­ma­chen; den Willen zum Widerstand zu ver­brei­ten; aus dem ein­fa­chen Wunsch her­aus, dass wir es den­je­ni­gen, die ihr Leben ver­lo­ren haben, zu ver­dan­ken haben, bis dahin gekom­men zu sein, wo wir heute sind, und es andere den­je­ni­gen, die noch ihr Leben ver­lie­ren wer­den, zu ver­dan­ken haben wer­den, dass sie dahin­kom­men, wo sie mor­gen sein wer­den. Wir glau­ben an die Revolution.“

Keine Unterstützung durch die wort­mäch­ti­gen Verkünder all­ge­mei­ner Menschenrechte

Beklagt wird in der Rede — unter Verweis auf die poli­ti­sche Entwicklung —, dass die Welt Syrien im Stich gelas­sen haben und immer wie­der neue Vorwände genannt wür­den, um die Unterstützung der Revolution zu ver­hin­dern, mal wür­den als Vorwand Israel, mal al-Qaida, mal die Dschihadisten genannt, auch der Schutz der Minderheiten, mal werde auch die Schwäche und Zersplitterung der poli­ti­schen Opposition vor­ge­scho­ben: „Das Recht des gesam­ten Volkes auf Selbstbestimmung, seine Früher selbst zu wäh­len,  galt für nie­man­den als Priorität. Es galt auch nicht als erste Priorität, die Erniedrigungen und Verbrechen der letz­ten vier Jahrzehnte zu been­den! Die Welt, im Osten und Westen, hat die Syrer nicht nur im Stich gelas­sen, son­dern die grund­le­gen­den Prinzipien der mensch­li­chen Solidarität unter­las­sen“. Und Razan Zaituoneh beklagt, dass außer­halb Syriens für die dor­ti­gen Ereignisse meist die Bezeichnung „Bürgerkrieg“ ver­wen­det wird, sei es aus juris­ti­schen, sei es aus poli­ti­schen Gründen: „Mich macht das wütend, die Welt gönnt unse­rer Revolution — aus der Komplexität der Beziehungen und Interessen —, nicht ein­mal ihren Namen!“. Unvergessen, so sagt die Preisträgerin, bleibe aber der Beistand von Millionen ein­fa­chen Menschen in Ost und West, die sich mit beschei­de­nen Möglichkeiten mit der Revolution des syri­schen Volkes soli­da­ri­siert hät­ten.

Ein Gefühl der Dankbarkeit

Razan Zaituoneh hat  am Ende ihrer Rede bei der Verleihung des Ibn Rushd-Preises für Freies Denken ihr Gefühl nach dem Bekanntwerden der Preisverleihung an sie so beschrie­ben: „Ich erin­nere mich, als die Verleihung des Ibn Rushd Preises an mich bekannt gege­ben wurde, dass meine Mutter, eine ein­fa­che syri­sche Frau, mich fragte, ob das der­selbe Ibn Rushd sei, den wir ein­mal in einem Film gese­hen hat­ten, der unter­drückt wurde und des­sen Bücher ver­brannt wur­den. Als ich dies bejahte, lächelte sie zufrie­den und blickte träu­me­risch. Da emp­fand ich ein tie­fes Gefühl der Dankbarkeit.“

Hintergrund:
Ibn Rushd  (Avorroes), spanisch-arabischer Arzt und Philosoph, geb. 1126 Cordoba, gest. 1198 in Marrakesch, der wegen sei­ner Ansichten, der Mensch solle seine Vernunft gebrau­chen, mit der isla­mi­schen Geistlichkeit in Konflikt geriet; seine Werke wur­den ver­bo­ten.

Sämtliche bei der Preisverleihung gehal­te­nen Reden im voll­stän­di­gen Wortlaut.

[Erstveröffentlichung: hpd]


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